Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie, München: Siedler 2015, 590 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8275-0057-1, EUR 29,99
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Zu Stalin - einer Persönlichkeit, die ohne Zweifel zu jenen gehört, die das 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt haben - gibt es mittlerweile eine unüberschaubare Menge an Publikationen. Schon vor der russischen Archivrevolution 1991 sind vor allem im Westen viele Biographien erschienen, in denen einstige Weggefährten oder Historiker über den Weg der Lebensbeschreibung die Politik der doch in vielen Bereichen unbekannten Sowjetunion aufschlüsseln wollten. Nach der Öffnung wichtiger Archive in Moskau erlebten Bücher über Stalin im In- und Ausland einen neuen Boom. Hierzu zählen sowohl gründlich recherchierte wissenschaftliche Arbeiten als auch affirmative und sensationsheischende Veröffentlichungen aller Art. [1] Das hier vorliegende Buch reiht sich in diese Publikationsflut ein und bildet doch in gewisser Hinsicht eine Ausnahme. Es betont an vielen Stellen die Vorläufigkeit der Erkenntnisse und stellt manchmal mehr Vermutungen an als Behauptungen auf. Das ist keineswegs als Schwäche des Autors auszulegen, sondern auf seine wissenschaftliche Redlichkeit zurückzuführen. Damit unterscheidet sich die Biographie wohltuend von vielen anderen Werken, die einfache Antworten auf schwierige Fragen geben.
Oleg Chlewnjuk ist einer der Historiker, die sich nach 1991 mit ganzer Leidenschaft den neu zugänglichen Akten gewidmet haben, vor allem denen im Russischen Archiv für sozial-politische Geschichte (RGASPI) oder im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), wo er gegenwärtig auch - neben seiner Lehrtätigkeit an der Moskauer Staatlichen Universität und der dortigen Higher School of Economics - für Editionen zuständig ist. Die mit seiner Beteiligung entstandenen Dokumentenpublikationen der letzten beiden Jahrzehnte sind für die Forschung unentbehrlich geworden. Seine monographischen Arbeiten, beispielsweise zum Politbüro (1996), wurden zu in mehrere Sprachen übersetzten Standardwerken. In weiteren Aufsätzen und Büchern hatte er neben Themen zur Geschichte des sowjetischen Lagersystems die Parteifunktionäre der 1930er Jahre, aber auch die der Nachkriegsjahre im Blick. Die Biographie stellt in gewisser Weise eine Krönung dieser Forschungsarbeiten dar, spiegelt aber auch seine bisherigen Schwerpunkte wider. Es sind zum einen die Beziehungen des innersten Zirkels der Macht, die besonders eindrucksvoll herausgearbeitet werden, und zum anderen die innenpolitischen Entwicklungen des Landes, die insbesondere mit der Aufarbeitung der Terrorjahre seit der Perestrojka im Fokus der Forschung standen. Chlewnjuk räumt es selbst ein: Zur Außenpolitik sowohl der Vorkriegsjahre als auch der Nachkriegszeit mit dem beginnenden Kalten Krieg und zu Stalins Rolle als Oberbefehlshaber bis 1945 gibt die Biographie wenig her. Das hat mit dem Schwerpunkt seiner Quellen, aber auch mit der Forschungslage insgesamt zu tun. [2]
Der darstellerische Kniff der Montage ist eine gute Lösung für das Problem, Privates und Politisches so zu verbinden, dass weder das eine noch das andere zu kurz kommt, aber beides auch nicht über Gebühr miteinander vermengt wird oder jeweils als Begründung für das eine oder andere herhalten muss. In separaten Kapiteln werden die letzten fünf Tage des Diktators geschildert, seine Agonie nach dem Schlaganfall und das Verhalten seiner näheren Umgebung dazu. Chlewnjuk nutzt dies, um bestimmte persönliche Eigenheiten Stalins - seine Herrschaftstechnik, seinen Charakter und seine Gewohnheiten, seine Freund- und Feindschaften, seine Familie - jeweils in sich geschlossen darzustellen. Es ist ein Kunstgriff, um einen Spannungsbogen zu halten, aber auch, um die vielen Legenden und Anekdoten dieses Lebens nicht gänzlich zu verschweigen, ohne aber damit hausieren zu gehen. Denn auch hier fällt das Abwägende, das vorsichtig Bewertende positiv auf. In sechs Großkapiteln dann - "Der Weg zum Revolutionär", "In Lenins Schatten", "Stalins Revolution", "Terror und drohender Krieg", "Stalin im Krieg", "Der Generalissimus" - beschreibt Chlewnjuk im Rahmen einer konventionellen Periodisierung der sowjetischen Geschichte die Verschränkung von individuellem Lebensweg und politischer Entwicklung. Und aufgrund des außerordentlichen Einflusses Stalins, mit dem er seit Mitte der 1920er Jahre immer stärker die Geschicke des Staates lenkte, ist die vorliegende Biographie auch gleichzeitig eine politische Geschichte der Sowjetunion. An dieser Stelle einzelne Erkenntnisse Chlewnjuks herauszugreifen, um das Gesagte zu untermauern, würde gerade dem widersprechen, was ein Anliegen des Autors war: keine verkürzten Antworten zu geben. Möglicherweise wirkt die Biographie auch deswegen so überzeugend, weil sie zum richtigen Erscheinungszeitpunkt kommt: keine relevanten politischen Auseinandersetzungen mehr, keine Spekulationen, wenig Instrumentalisierung - dafür Dokumente und eine reiche Forschung, die sich diskutieren lässt. Chlewnjuk hat die Chance ergriffen.
Ob die Verlage sich einen Gefallen tun, wichtige Werke, die in Russland entstehen, nicht aus dem Russischen, sondern aus einer anderen Sprache - meist aus dem Englischen - ins Deutsche übertragen zu lassen? Nicht immer zahlt sich Sparsamkeit (oder was auch immer dahinterstecken mag) aus. Wie beim Stille-Post-Spiel kommen am Ende zuweilen kuriose Bezeichnungen für Fachbegriffe heraus. Hier ist die Übersetzung (Helmut Dierlamm) gelungen, vielleicht war auch die Fachberatung durch einen Osteuropahistoriker (Jan Plamper) hilfreich. Wer sich neu in die Thematik des Stalinismus einarbeitet, sollte unbedingt mit diesem Werk beginnen. Es lässt sich gut lesen, es reflektiert den gegenwärtigen Forschungsstand, es stellt die richtigen, weiterführenden Fragen. Wenn man sich von hier aus die weitere Literatur zu Stalin und zum Stalinismus erschließt, wird man schnell merken: Von Chlewnjuk hat man einen verlässlichen Beurteilungsmaßstab geliefert bekommen - auch für wissenschaftliches Arbeiten insgesamt.
Anmerkungen:
[1] Chlewnjuk selbst liefert in seinem Vorwort einen knappen, instruktiven Überblick über die unterschiedlichen Wellen in der Geschichtsschreibung zu Stalin und zum Stalinismus. Nach seiner Biographie erschien: Christopher Read: Stalin. From the Caucasus to the Kremlin, London / New York 2016. Ergänzend zum deutschsprachigen Raum, der in der Perzeption Chlewnjuks etwas stiefmütterlich behandelt wird, soll die Zeitschrift "Osteuropa" genannt werden, die seit dem Archivumbruch immer wieder aufschlussreiche Literaturübersichten zum Stalinismus zusammenstellte; zuletzt findet sich in Heft 4/2012 (Im Profil. Stalin, der Stalinismus und die Gewalt) ein historiographischer Artikel von Andreas Oberender: Annäherungen an einen Unfassbaren. Stalin und seine Biographen, 37-52.
[2] Die noch ausstehenden beiden Bände der Monumentalbiographie über Stalin von Stephen Kotkin sollen diese Lücke füllen; Stephen Kotkin: Stalin. Paradoxes of Power, 1878-1928, London 2014; ders.: Stalin. Waiting for Hitler, 1929-1941, London 2017 (werbewirksam für den 7. November 2017 ankündigt).
Carola Tischler