Jan Gerber: Ein Prozess in Prag. Das Volk gegen Rudolf Slánský und Genossen (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 26), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 296 S., ISBN 978-3-525-37047-6, EUR 45,00
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Im November 1952 fand in Prag einer der spektakulärsten stalinistischen Schauprozesse des Kalten Krieges statt: Auf der Anklagebank saßen Rudolf Slánský, ehemaliger Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch), und 13 weitere Vertreter des tschechoslowakischen Staats- und Parteiapparates. Elf von ihnen wurden zum Tode verurteilt, drei erhielten lebenslange Freiheitsstrafen. Für die politische Diskussion zur Zeit des Kalten Krieges und die Geschichtsschreibung war das Verfahren nicht nur deswegen bedeutsam, weil es sich um das größte und letzte dieser Art handelte. Beachtlich war vor allem seine offensichtliche antisemitische Stoßrichtung: Bis auf drei hatten alle Angeklagten einen jüdischen Hintergrund.
Jan Gerber betrachtet den Prozess, der bereits Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Studien und weiterer Veröffentlichungen war, auf ungewöhnliche Weise. Er nähert sich ihm über die Lebensgeschichten zweier nicht angeklagter prominenter kommunistischer Schriftsteller mit einem jüdisch-böhmisch-deutschsprachigen Hintergrund, die ihre letzte Lebens- und Schaffensphase in der DDR verbrachten: Franz Carl Weiskopf und Louis Fürnberg. So gelingt es Gerber, den sogenannten Slánský-Prozess aus einer bisher weitgehend vernachlässigten Perspektive zu betrachten. Danach war dieser keineswegs nur ein von Moskau verordnetes Tribunal, sondern stark mit der tschechoslowakischen Vorkriegsgeschichte verbunden: Er ist zu einem großen Teil als Spätfolge des deutsch-tschechischen Nationalitätenkonfliktes des 19. und der ersten Hälfte des frühen 20. Jahrhunderts zu interpretieren.
Zunächst befasst sich Gerber mit der bisherigen Sicht auf den Prozess, der für gewöhnlich primär als Folge der kommunistischen bzw. stalinistischen Paranoia vor Gegnern in den eigenen Reihen sowie zweier außenpolitischer Umorientierungen der Sowjetunion und damit auch ihrer Satellitenstaaten gesehen wird: des Bruchs mit Titos Jugoslawien sowie der Abwendung von Israel und der Hinwendung zu dessen arabischen Gegnern. Diese Sicht entsprach der Anklageschrift, wonach die Beschuldigten ein "trotzkistisch-titoistisches, zionistisches, bürgerlich-nationalistisches" Verschwörerzentrum unterstützt hätten. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur zu Recht der sowjetische Einfluss auf den Prozess hervorgehoben, auch wenn inzwischen vermehrt Eigeninitiative und Eigenanteil der nationalen kommunistischen Parteien an der Politik des östlichen Lagers herausgearbeitet werden.
Hier setzt Gerber an und will den Nachweis erbringen, dass der Slánský-Prozess gleichzeitig ein Beispiel dafür ist, wie stark nationale Vorkriegsprägungen die Politik in Staaten des östlichen Lagers beeinflussen konnten. Dazu holt er weit aus und geht auf die Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen in der Habsburgermonarchie im 19. und frühen 20. Jahrhundert und in der Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) sowie deren Einfluss auf die Arbeiterbewegung der böhmischen Länder ein. Fürnberg und Weiskopf waren als deutschsprachige Linke mit jüdischem Hintergrund von diesem Erfahrungshintergrund geprägt. So erwähnt beispielsweise der in Prag aufgewachsene Weiskopf in seinem autobiografisch geprägten Roman "Slawenlied" (1931) einen bezeichnenden Spruch hänselnder tschechischer Kinder in Prag: "Deutscher und Jud', einen Dreck bist du gut."
Wie sich im Verlauf von Gerbers Studie zeigt, waren solche Ressentiments für das Verfahren gegen Slánský und andere bedeutsamer, als sich auf den ersten Blick vermuten lässt - und daher sind Weiskopf und Fürnberg in der Tat sehr gut gewählte Beispiele für die These, dass dieser Schauprozess eine spezifische (tschechische) nationalistische Prägung besaß. Fürnberg und Weiskopf standen wie weitere Personen mit einem ähnlichen biografischen Hintergrund ebenfalls als Verdächtige auf der Liste der tschechoslowakischen Staatssicherheit, weswegen für sie eine baldige Übersiedlung in die DDR eine Frage von Leben und Tod zu sein schien. Und dies, obwohl sie die zahlreichen vorausgegangenen Kurswechsel der KPTsch, die Gerber eindrucksvoll beschreibt, mitgegangen waren.
Letztlich waren aber das Münchner Abkommen und die Abtretung der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Grenzregionen der Tschechoslowakei an Deutschland im Jahr 1938 sowie die Besetzung des Binnenlandes und die Proklamation des Protektorats Böhmen und Mähren 1939 für die tschechische Gesellschaft derart einschneidende Erfahrungen, dass nach 1945 nicht nur die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei die Folge war - sondern auch eine große Distanz der tschechischen Kommunisten zu ihren (sudeten-)deutschen Genossen. Dabei galten gerade auch Personen jüdischer Herkunft so verdächtig wie bereits während des Nationalitätenkonflikts im 19. und frühen 20. Jahrhundert: als national indifferent und damit national unzuverlässig.
Hier schließt sich der Kreis zwischen den außenpolitisch-ideologischen, der Logik des östlichen Lagers folgenden, und den autochthonen, der Logik des auch von der KPTsch-Führung vertretenen Anspruchs auf einen ethnisch homogenen Staat folgenden Hintergründen des Slánský-Prozesses. Elf der 14 Angeklagten besaßen nicht nur - wie erwähnt - einen jüdischen Hintergrund, sondern "entstammten dem Bürgertum und waren vornehmlich deutsch- oder mehrsprachig aufgewachsen" (254), waren also gleich in dreifacher Hinsicht verdächtig. Die tschechoslowakische Presse betonte sogar, dass die Geburtsnamen vieler Beschuldigter auf "deutschsprachiger Tradition" beruhten. Gerber folgert: "In der ČSR fielen sie [der sowjetische Interessenwandel im Nahen Osten und das Schisma zwischen Moskau und Belgrad] mit den Nachbeben der ethnischen Konflikte der Zwischenkriegszeit zusammen. Ethnische und ideologische Fragen gingen ineinander über, die Zugehörigkeit erfuhr eine klassenkämpferische Codierung." (255)
Somit erscheint Gerber zufolge der Slánský-Prozess als Versuch einer ideologischen und ethnischen Säuberung. Zahlreiche jüdische prominente Persönlichkeiten und Funktionäre wurden nun ebenfalls als "Fremde" aus der volksdemokratischen Gemeinschaft der Tschechen und Slowaken ausgeschlossen - nach der Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und der nur vordergründig freiwilligen Umsiedlung deutscher Antifaschisten in die westlichen deutschen Besatzungszonen und in die SBZ. Zurück blieben im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Tschechoslowakei nur noch äußerst wenige Persönlichkeiten deutscher und / oder jüdischer Herkunft.
Die Studie Gerbers ist nicht nur inspirierend und informativ, sondern zudem sehr gut geschrieben. Sie bettet den Slánský-Prozess überzeugend in einen breiteren historischen Kontext ein, ohne die zentralen Bedeutungsebenen des Ost-West-Konflikts und der inneren Entwicklung des stalinistischen östlichen Lagers in Abrede zu stellen. Insofern handelt es sich um eine anregende Erweiterung der Interpretation dieses wichtigen Verfahrens. Sie ist, zumal sie (leider nur kurz) auf die Situation in Ungarn, Bulgarien und Polen verweist, ein weiterer Beleg für die große Bedeutung nationaler oder gar nationalistischer Traditionsbestände in staatssozialistischen Gesellschaften.
Volker Zimmermann