Norman Ohler: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Mit einem Nachwort von Hans Mommsen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015, 368 S., ISBN 978-3-462-04733-2, EUR 19,99
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War Hitler krank? Diese Frage stellten 2009 der Mediziner und Medizinhistoriker Hans-Joachim Neumann und der Zeithistoriker Henrik Eberle. [1] In ihrem gleichnamigen Buch legten sie einen gründlich recherchierten und überzeugenden Forschungsbericht vor. Darin widerlegten die Autoren zahlreiche bis dahin kursierende Gerüchte und Legenden über Hitlers angebliche Krankheiten und seine vermeintliche Drogenabhängigkeit. Umso mehr erstaunt, dass der Berliner Journalist und Romanschriftsteller Norman Ohler nun eine ganze Reihe dieser alten Legenden wieder aufleben lässt, gerade so, als ob es die Studie von Neumann und Eberle nicht gäbe. Von einigen interessanten Quellenfunden zum Erfinder und zur Entwicklung des Aufputschmittels Pervitin abgesehen, bietet Ohlers Arbeit denn auch inhaltlich nichts Neues. [2]
Ob es daran liegt, dass der Autor kein ausgebildeter Historiker ist, sei dahingestellt. Auffallend ist jedoch, dass seine gesamte Darstellung von teils gravierenden handwerklichen Mängeln durchzogen ist, welche die Studie als Sachbuch weitgehend entwerten. Von einer Arbeit, die "wissenschaftlich akkurat recherchiert" ist, wie es der Klappentext ankündigt, kann schwerlich die Rede sein. Neben zahlreichen Aussagen, die Ohler ohne jegliche Beispiele oder Quellenbelege trifft, finden sich mindestens genauso viele unbewiesene - und unbeweisbare - Spekulationen. Dazu gehört etwa die Behauptung, Hitlers Gehirn sei "durch Neurotoxizität irreversibel" geschädigt gewesen (291), oder die Mutmaßung: "Mittlerweile fand er [Hitler] sich nur noch durch Betäubungsmittel in seinem Irrglauben bestätigt." (235) Äußerst bedenklich werden solche Spekulationen dann, wenn Ohler sie im Verlauf seiner Darstellung zu Axiomen werden lässt, etwa an den Stellen, an denen er behauptet, die erstaunlichen deutschen Erfolge in den "Blitzfeldzügen" seien lediglich aufgrund des Dopings der Wehrmachtsoldaten mit Methamphetamin (Pervitin) zustande gekommen (83, 106-108, 171). Die Bedeutung von Pervitin als Aufputschmittel für die Wehrmacht ist hinlänglich bekannt, aber sie war keinesfalls so groß, wie Ohler unterstellt. [3]
Ein sprechendes Beispiel für den Umgang des Autors mit Quellen ist seine Aussage, Hitlers Leibarzt Theo Morell habe Pervitin "ohne zu zögern" verteilt, "und der rege Methamphetamingebrauch in der Wolfsschanze" habe "Kreise bis nach Berlin" gezogen (195). Als Beleg führt Ohler lediglich den Brief eines ehemaligen Patienten an Morell an, in dem es heißt: "Sehr oft sprechen wir von Dir und von Euch und diese Erinnerungen pulvern uns immer richtig froh auf." (Anm. 299) Man muss schon sehr viel Phantasie haben, um aus dem "Aufpulvern" durch die frohen Erinnerungen auf Pervitinkonsum zu schließen! Als Leser fragt man sich, ob der Autor sich nicht selbst geradezu in einen Rausch hineingeschrieben hat, bei dem sachliches Argumentieren auf der Strecke blieb. Darauf lassen auch Aussagen wie jene über das Reichsluftfahrtministerium schließen, "über dem die roten Reichskriegsflaggen mit dem Hakenkreuz in der Mitte derart selbstbewusst flatterten, als wollten sie unmissverständlich verdeutlichen, dass sogar der Wind, sogar die unsichtbare Masse des Himmels, dem Machtbereich dieser Regierung und zumal dem Reichsmarschall unterlagen". (130)
Eine weitere der zahlreichen Mutmaßungen ist die Aussage über das Zeichen "x", mit dem Morell seine Vitamin- und Traubenzuckerinjektionen in seinen Aufzeichnungen kennzeichnete: In Wirklichkeit habe sich hinter Morells "x" das süchtig machende Schmerzmittel Eukodal verborgen. Schreibt Ohler zunächst noch, dies könne "vermutet werden" (192), ist wenig später daraus ein weiteres Axiom geworden: "Lange Zeit verwechselte auch Hitler die ähnlich klingenden Arzneien und verlangte Eupaverin, wenn er eigentlich Eukodal meinte." (223) Tatsächlich verabreichte Morell das krampflösende Eupaverin Hitler immer wieder gegen dessen chronische Darmbeschwerden, was man bereits bei Neumann und Eberle nachlesen kann. [4] Ohler kommentiert Morells Injektionen dagegen so: "All dies ist noch kein Beweis, aber es sind Indizien, die dafür sprechen, dass Hitler im letzten Quartal 1944 süchtig geworden war nach Eukodal - und das Betäubungsmittel nun weiterhin ersehnte." (289)
Ohlers gesamte Darstellung ist geprägt von solchen unsachlichen Unterstellungen, egal, ob es um Hitler geht oder den vermeintlich exzessiven Pervitin-Konsum in der Bevölkerung sowie in der Wehrmacht. Dabei führt er mitunter Quellen an, die seiner eigenen Argumentation widersprechen, etwa wenn er schreibt, der Quartiermeister der 1. Panzerdivision habe vor dem Westfeldzug 20.000 Pervitin-Tabletten für seine Division bestellt (99). Die 1. Panzerdivision hatte eine Verpflegungsstärke von etwa 15.000 Mann. [5] Theoretisch kam demnach auf jeden Soldaten wenig mehr als eine Tablette - kaum eine Menge, die es den Soldaten erlaubt hätte, sich permanent zu "bedröhnen". Auch die Aussage von Johannes Steinhoff, er habe 1943 als Kommodore des Jagdgeschwaders 77 im Mittelmeerraum das erste und einzige Mal das ihm bis dahin noch unbekannte Pervitin genommen, macht Ohler offenbar nicht stutzig, obwohl er in einer Anmerkung selbst darauf hinweist (129, Anm. 178).
In vielen anderen Fällen bezieht sich der Autor auf fragwürdige Aussagen aus Memoiren, etwa des "Lügenbarons" Albert Speer. [6] Die angebliche Kokainsucht Hitlers, die Ohler in seiner Studie kolportiert, geht auf die Nachkriegsaussagen des HNO-Arztes Erwin Giesing zurück, deren Unglaubwürdigkeit Neumann und Eberle bereits 2009 aufgezeigt haben. [7] Darüber hinaus finden sich in Ohlers Studie etwa zwei Dutzend sachliche Fehler, die ihn nicht gerade als Experten für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs erscheinen lassen. Dazu gehört die Behauptung, Guderian habe 1940 den Blitzkrieg erfunden, ebenso die völlig falsche Darstellung der Gründe, die zum Anhalten der Panzerverbände vor Dünkirchen führten (104, 114-116). Eine ganze Reihe von Anmerkungen passt darüber hinaus inhaltlich nicht zu den Textstellen, die belegt werden sollen - offenbar ein technischer Fehler (198-205, 237).
Fasst man alles zusammen, hinterlässt die Studie einen reißerischen, unsachlichen und in hohem Grad unwissenschaftlichen Eindruck. Ohler selbst schreibt im abschließenden Kapitel "Der tausendjährige Rausch": "Wenn hier der Drogenkonsum des vorgeblichen Abstinenzlers [Hitler] untersucht wurde, dann nicht, um in der intimen Betrachtung nach Sensationen zu suchen." (302) - Das ist nach der Lektüre der vorangegangenen 300 Seiten allerdings schwer zu glauben.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hans-Joachim Neumann / Henrik Eberle: War Hitler krank? Ein abschließender Befund, Köln 2009.
[2] Das haben bereits andere Rezensenten mit entsprechenden Literaturhinweisen aufgezeigt, vgl. etwa Anne Gnausch über Ohler, Norman: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Köln 2015, in: H-Soz-Kult, 25.03.2016. URL: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25096
[3] Vgl. dazu etwa Peter Steinkamp: Pervitin (Methamphetamine) Tests, Use and Misuse in the German Wehrmacht, in: Man, Medicine, and the State. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century, hg. von Wolfgang U. Eckart, Stuttgart 2006, 61-71.
[4] Vgl. Neumann / Eberle: War Hitler krank, beispielsweise 191-194.
[5] Kriegstagebuch der Quartiermeister-Abteilung, 1. Panzer-Division, 10.5.1940-24.6.1940, National Archives and Records Administration, Archives II, College Park (Maryland), T-315, Roll 16, Frame 167.
[6] So Sven Felix Kellerhoff über Speer in seiner Besprechung von Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München 2017, in: Die Welt (online), 1.6.2017. URL: https://www.welt.de/print/welt_kompakt/debatte/article165100308/Der-Luegenbaron.html
[7] Vgl. Neumann / Eberle: War Hitler krank, 77-81.
Roman Töppel