Wolf Gruner: Die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren. Lokale Initiativen, zentrale Entscheidungen, jüdische Antworten 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2016, 430 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1910-3, EUR 34,90
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Die Monografie schließt als erste deutschsprachige Gesamtdarstellung zur Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren eine Forschungslücke zu dessen Geschichte. Durch die erstmalige umfassende Auswertung der in Yad Vashem archivierten Wochenberichte der Prager Jüdischen Kultusgemeinde an Adolf Eichmanns Zentralstelle für jüdische Auswanderung, die von Sommer 1939 bis Ende 1942 beinahe vollständig erhalten sind, wird eine Fülle neuer Informationen zugänglich gemacht. Diese umfassen genaue Zahlengaben, wie viele Mahlzeiten die Kultusgemeinde an verarmte Jüdinnen und Juden ausgab, wie viele Menschen sie über die Arbeitsämter in Arbeit vermittelte, wie viele sie umschulen ließ, um ihnen die spätere Auswanderung zu erleichtern, welche Sprachkurse sie zum selben Zweck anbot, wie viele Auswanderungsanträge wohin bearbeitet und bewilligt wurden. So wird die "Sisyphusarbeit der Prager Kultusgemeinde" (145), welche ab 1940 sämtliche Aufgaben der staatlichen Wohlfahrt für die von den deutschen Behörden als Juden definierten Menschen übernehmen musste, anhand von deren Quartals-, Monats- und Wochenberichten sowie weiterer Korrespondenz eindringlich geschildert.
In die Studie wurden auch Interviews mit überlebenden Jüdinnen und Juden einbezogen, um neben den deutschen und tschechischen Behörden, welche die Juden vor ihrer Deportation mehr und mehr entrechteten, aus der sozialen Fürsorge herausnahmen, in jeder Hinsicht diskriminierten, gettoisierten und zur Zwangsarbeit einsetzten, auch die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen. Dem Autor ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die jüdische Bevölkerung sich dem nicht widerstandslos fügte, sondern gegen die behördlichen Anordnungen verstieß. Man kann aber in Frage stellen, ob ein verbotener Kino- oder Restaurantbesuch, so mutig und gefährlich eine solche Übertretung auch war, als Widerstand zu klassifizieren ist.
Neben den weitgehend mit statistischem Material unterfütterten verschiedenen Entwicklungsphasen der Entrechtung und Verfolgung der Juden im Protektorat wartet der Autor auch mit einigen bedenkenswerten neuen Erkenntnissen auf, unter anderem, dass der von der Kultusgemeinde über die Arbeitsämter in Gang gesetzte Arbeitseinsatz zuerst "eine Antwort auf die erzwungene Erwerbslosigkeit der Juden" (9) war, um deren Lebensunterhalt sicherzustellen, oder dass die sogenannte Nisko-Aktion im Herbst 1939 keineswegs nur eine Probe-Deportation von Juden aus dem erweiterten Reichsgebiet und dem Protektorat in das Generalgouvernement war, sondern der "Beginn der kurz nach Kriegsbeginn geplanten 'Gesamt-Umsiedlung' der jüdischen Bevölkerung" (96) aus diesen Gebieten.
Zu hinterfragen ist, ob dem Autor eines seiner Hauptanliegen, die "Anteile der deutschen und tschechischen Verfolgungspolitik im Protektorat" auszuloten und "die Bedeutung von regionalen und lokalen Initiativen" (7) zu gewichten, ganz gelungen ist. Die konstatierte "wechselseitige Dynamisierung lokaler, regionaler und zentraler Verfolgungsmaßnahmen" (299) ist sicher zutreffend, zahlreiche Einzelfälle müssten aber noch eingehender untersucht werden, und zwar anhand der Akten der Protektoratsbehörden, die oft vereinfachend als "tschechische Ministerien" (270) bezeichnet werden. Was heißt aber "die tschechische Seite" (305), wenn seit der Verwaltungsreform Reinhard Heydrichs ab 1942 mehr deutsche Beamte und Angestellte in den zentralen Protektoratsbehörden tätig waren als in der Behörde des Reichsprotektors? Auch vorher ist mehr Vorsicht angebracht: Wenn etwa das Präsidium der böhmischen Landesbehörde im August 1940 die Abschaffung von Lokalen für Juden und Nichtjuden anordnete (139f.) oder der Landespräsident von Böhmen Juden das Fischen verbot (159), dann waren dies zwar scheinbar autonome Behörden, also "tschechische". Allerdings hatten die böhmische wie die mährische seit März 1940 jeweils einen deutschen Landesvizepräsidenten, ohne dessen Zustimmung nichts ging und der die genannten Erlässe angestoßen haben könnte. Oder: Eine "Bereitstellung von jüdischem Wohnraum an deutsche Bewerber" als "konzertierte Aktion zur Konzentration der Juden in 'Judenhäusern' und der Verteilung ihrer bisherigen Wohnungen [...], an der die Stadt, die Zentralstelle und die NSDAP gleichermaßen interessiert und beteiligt waren", lässt sich eben nicht auf "Begehrlichkeiten in der Prager Stadtverwaltung" (141), sondern des sudetendeutschen Primator-Stellvertreters Josef Pfitzner zurückführen. Insgesamt wird detailliert geschildert, wie zahlreiche unterschiedliche lokale und regionale deutsche und Protektoratsbehörden die Handlungs- und Lebensmöglichkeiten der etwa 118.000 im Protektorat als Juden definierten Menschen immer mehr einschränkten.
Durch gründlicheres Lektorat hätte eine Reihe von Fehlern vermieden werden können. Oft werden tschechische Orts- und Straßennamen sowie Namen tschechischer Zeitungen falsch geschrieben, Jaroslav Stránský wird als Justizminister jüdischer Konfession in der Zwischenkriegszeit genannt, obwohl offenbar Alfréd Meissner gemeint ist (28, 42); Staatspräsident Emil Hácha wird als "Ministerpräsident" (9, 301) bezeichnet. Frappierender sind aber Fehleinschätzungen, die bei hinreichender Rezeption der einschlägigen Fachliteratur vermeidbar gewesen wären: Das Kuratorium für Jugenderziehung wurde nicht für "die deutschsprachige Jugend" (207) im Protektorat gegründet, sondern zur Indoktrinierung der tschechischen Jugend; keineswegs "erhielten alle Reichministerien und Reichbehörden [...] eigene Abteilungen [im Deutschen Staatsministerium], und damit indirekt Vertretung und Stimme im Protektorat" (274). Das Deutsche Staatsministerium für Böhmen und Mähren war ein Territorialministerium, das die Kompetenzen der Reichministerien im Protektorat bündelte, Hitler unmittelbar unterstand und dessen Abteilungen den Protektoratsministerien entsprachen, um diese reibungsloser steuern zu können. Oder: Die Kinder des am 10. Juni 1942 vernichteten Ortes Lidice wurden keineswegs "nach Theresienstadt" (246) deportiert, sondern nach Łódź, um anschließend in Chełmno vergast zu werden.
Diese und weitere Fehler und Fehleinschätzungen verwundern umso mehr, als die Studie ansonsten die antijüdische Politik im Protektorat präzise und überzeugend in ihren spezifischen Zügen wie in ihrer "graduelle[n] Anpassung an die Berliner Politik im Rest des Großdeutschen Reiches" (224) ab den letzten Monaten des Jahres 1941 zeichnet. Dem Autor ist zuzustimmen, dass bis dahin "die Verfolgung [...] hauptsächlich von der tschechischen Regierung sowie den Oberlandräten, Bezirksämtern, Polizeipräsidien und Stadtverwaltungen vorangetrieben" (293) wurde, es müsste aber noch genauer der reichs- und sudetendeutsche Anteil an den "lokale[n] Behörden, Polizeipräsidenten, Oberlandräte[n] und Bürgermeister[n]" festgestellt werden, welche "mit antijüdischen Initiativen der Gesetzgebung voran[eilten]" (299), also die jeweiligen lokalen Akteure noch genauer gefasst werden, welche die "eigenständige Radikalisierung des Protektorates" (305) in der Judenverfolgung mit in Gang setzten.
Insgesamt ist die Studie anregend, schließt eine Forschungslücke und erschließt zudem eine Fülle neuer Quellen, die unsere Kenntnisse über die Lebensumstände der jüdischen Bevölkerung im Protektorat erheblich erweitern.
René Küpper