Joachim Detjen: Politische Erziehung als Wissenschaftsaufgabe. Das Verhältnis der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft zur politischen Bildung, Baden-Baden: NOMOS 2016, 568 S., ISBN 978-3-8487-0793-5, EUR 98,00
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Soziales Verhalten hängt von der Bildung ab - der formalen wie der außerschulischen. Nach Kriegsende 1945 erschraken viele, wenn sie ehrlich waren, über ihr eigenes Verhalten während der NS-Zeit und arbeiteten fortan daran mit, eine Diktatur nicht mehr zuzulassen. Impulse dazu gaben nicht nur die Besatzungsmächte, sondern auch etliche aus dem Exil zurückkehrende Politikwissenschaftler wie Ernst Fraenkel oder Siegfried Landshut, die Kritik am NS-System mit Erfahrungen in anderen Staaten verbinden konnten. Dagebliebene wie Theodor Eschenburg, Gert von Eynern oder Dolf Sternberger setzten sich ebenso für eine grundlegende Demokratisierung ein wie aktive NS-Gegner nach leidvollen Jahren in Haft, so wie das etwa Wolfgang Abendroth oder Eugen Kogon taten. Die Deutschen zur praktischen Mitarbeit am neuen Gemeinwesen anzuhalten (u.a. bei der Willensbildung und bei Wahlen), war gemeinsamer Anspruch der Gründergeneration der westdeutschen Politikwissenschaft - über weltanschauliche Grenzen hinweg. Der Band, Frucht mehrjähriger Forschung, will die "gesamte Kohorte" anthologisch vorstellen, beherzt bewerten und in die Fachgeschichte einordnen.
Der hohe Stellenwert der politischen Bildung in der frühen Bundesrepublik kontrastiert - nicht nur nach Meinung des langjährigen Eichstätter Bildungsforschers Joachim Detjen - mit späterer Vernachlässigung. Die Erklärungsdefizite und Vermittlungsprobleme der bis heute tonangebenden Szientisten spießt der 2013 emeritierte Politikwissenschafter, bekannt durch Arbeiten zu Bildung und Verfassungswerten [1] mit Akribie auf. Detjen mahnt, die politische Bildung ernstzunehmen. Jede Generation will neu für die Demokratie begeistert sein. Auf persönliche Verantwortung und Urteilskraft kommt es an, die selten jemandem zufliegen. Wissen und Erfahrung gehören als Werkzeuge der Alltagsbewältigung zusammen.
Wer die Studien zu den Gründern der Politikwissenschaft nacheinander durchgeht, findet das Mosaik einer - von Pragmatismus und zugleich von westlichen Rechts- und Kulturtraditionen gekennzeichneten - Hausethik [2] vor: einer Anleitung, wie die Bürger durch Bildung ihre Interessen auf allen Ebenen besser durchsetzen können. Einen gewissen konservativen Zug verbirgt der Autor nicht - der Leser merkt es an der Verwendung des Wortes "Erziehung", dessen Verbindlichkeitsgrad heute oft Streitgegenstand ist, etwa, wenn es um die "Orientierungsfunktion" (510) geht.
Joachim Detjen legt mit dem Band eine quellengesättigte Studie vor, die allein durch die Liste der Archive und Primärtexte besticht. Mit etlichen Köpfen hat er sich vorab befasst, etwa mit Arnold Bergstraesser, Ernst Fraenkel oder Ferdinand A. Hermens. [3] Er gibt einen Überblick über den Forschungsstand, der zugleich den Reflexionswillen des Fachs und die Geschichtsvergessenheit der letzten Jahre insoweit verdeutlicht, als Rückblicke und Fragen nach der Aktualität früherer Ansätze aus einem bestimmten Binnenzirkel kaum hinausgelangen. Detjen stellt - dem eigenen Wissenschaftsverständnis gemäß - bei den Einzelporträts bestimmte Ziele ins Zentrum, wie es die sachlich-qualitativen Überschriften erkennen lassen: Zurechtkommen mit und in den Institutionen, Kritikfähigkeit, Internationalität. Dennoch folgt die Gliederung jedes Porträts einer stringenten Systematik: Nach einem Abriss zu "lebensgeschichtlichen Vorprägungen" widmet sich Detjen der jeweiligen Bildungsidee, die einem (vielleicht etwas aufgesetzten) "roten Faden" folgt, wie ihn die meist breit interessierten Professoren so gar nicht verfolgten. Anschließend geht es ihm um die Arbeit an der Umsetzung ("Intensität des Einsatzes", Engagement an der Universität sowie für die Schul- und Erwachsenenbildung, Konzeption und Reflexion, Fachverständnis). Mit Abstand fallen die Porträts zu Bergstraesser und Fraenkel am längsten, die zu Ossip K. Flechtheim, Arcadius R. Gurland und Ferdinand A. Hermens am kürzesten aus. Gerahmt werden die Einzelporträts von einführenden Abschnitten zur Etablierung der politischen Bildung (unter Rückgriff auf Dokumente der Jahre 1946 bis 1964) und von einem abschließenden Vergleich, der vor allem den jeweiligen Beitrag zur Fachentwicklung im Ganzen und die Fortwirkung der Gründerideen darlegt.
Drei Monita ließen sich anbringen: Die Einzeltexte lassen die überwiegend gemeinsame Arbeit der Beteiligten etwa an den Beschlüssen der Westdeutschen Rektorenkonferenz kaum erkennen. Zudem geraten sachliche Großprojekte, etwa die Einführung des Schulfachs Gemeinschaftskunde, wie sie Bergstraesser und Eschenburg zunächst in Baden-Württemberg erreichten (vgl. 130 und 174), in den Hintergrund - beide Kritikpunkte gleichen die Rahmenkapitel aber aus. Die Konzentration auf die Ausgestaltung der politischen Bildung lässt nicht immer ahnen, dass andere Teilbereiche des Faches ebenfalls Bildungsgedanken hegen.
Von späterem Zwist überdeckt sind die meist normativen Prämissen der Autoren, worin sich so unterschiedliche Gestalten wie Wolfgang Abendroth und Eric Voegelin einig waren. Demokratische Gesinnung im allgemeinsten Sinne wollten alle als Bildungseffekt erreichen, nur wenige von Beginn an das Aushalten von Pluralität (darunter Ernst Fraenkel, Gerhard Leibholz und Dolf Sternberger). Den Wert der "Gemeinschaft" hoben Carl J. Friedrich, Siegfried Landshut und Carlo Schmid - aus unterschiedlichen Gründen - besonders hervor. Eine Kritikfähigkeit, die auf Kenntnis vom Sinn kultureller Traditionen und von Alternativen beruht, stand bei Bergstraesser im Vordergrund, eine radikale Form von Kritik ("Nonkonformismus") bei Flechtheim. Manche - wie Otto Stammer und Dolf Sternberger - setzten sich für "Bürgertugenden" ein, andere wollten eher Institutionen stärken - so etwa Gerhard Leibholz. Detjen hält nicht damit hinterm Berg, dass Michael Freund, Arcadius R. Gurland, Ferdinand A. Hermens, Carlo Schmid und Eric Voegelin viel Skepsis gegenüber praktischer Bildungsarbeit bekundeten, sich teils völlig desinteressiert zeigten. Was bei Detjen weniger ins Auge springt, sind Parallelen zwischen Charakter, wissenschaftlicher Schulbildung und Bildungsaktivität: Charisma ist Bergstraesser nachgesagt worden, Eigensinn Fraenkel, Menschenscheu Voegelin. Wer viele Schüler hatte, kümmerte sich offensichtlich verstärkt um Bildung - auf welcher Ebene auch immer.
Ist die Nachkriegszeit als Wendepunkt in der deutschen Bildungsgeschichte zu bezeichnen? Wer auf die Bildungskonzeptionen nach 1918 schaut, wird sowohl viel antidemokratisches Ressentiment wie methodische Innovationen und "Inseln" liberaler Gesinnung finden. [4] Nach 1945 bot allenfalls die Abbildung der Grenzen von 1937 in Atlanten Raum für Revisionsideen. Man könnte sagen: Die Nachkriegspädagogik kalkulierte, wohl infolge des eingangs erwähnten Schrecks, realistischer und damit "härter" jene ein, die sich nicht gern einer veränderten Erziehung unterwarfen. Insoweit hatte Deutschland eine Sonderstellung. [5] In einer Zeit ungeordneter Informationsfluten wäre eine fundierte Orientierungshilfe (überall in Europa) von hohem Wert; bei den Nachkriegspolitologen lässt sich dafür manches gute Rezept finden.
Anmerkungen:
[1] Joachim Detjen: Politische Bildung - Geschichte und Gegenwart in Deutschland, München u.a. 2007; ders.: Die Werteordnung des Grundgesetzes, Wiesbaden 22013. Die erste Auflage von 2009 erschien gekürzt zugleich bei der Bundeszentrale für politische Bildung.
[2] Im Sinne von Thomas Ellwein: Politische Verhaltenslehre, Stuttgart 1964.
[3] Zuletzt Joachim Detjen: Ferdinand A. Hermens (1906-1998), in: Eckhard Jesse / Sebastian Liebold (Hgg.): Deutsche Politikwissenschaftler - Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014, 347-360.
[4] Vgl. Matthias Busch: Staatsbürgerkunde in der Weimarer Republik. Genese einer demokratischen Fachdidaktik, Bad Heilbrunn 2016.
[5] Zu europäischen Vergleichsmöglichkeiten vgl. Corine Defrance / Romain Faure / Eckhardt Fuchs (Hgg.): Bildung in Deutschland nach 1945. Transnationale Perspektiven, Brüssel 2015.
Sebastian Liebold