Martin Wein: History of the Jews in the Bohemian Lands (= Studies in Central European Histories; Vol. 61), Leiden / Boston: Brill 2016, XIV + 339 S., ISBN 978-90-04-30126-9, EUR 129,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Geschichte der böhmischen Länder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf die Martin J. Wein in der vorliegenden Studie fokussiert, war geprägt von politischer Fremdbestimmung durch die Großmächte Österreich-Ungarn, Frankreich, Deutschland und Sowjetunion. Daher verwundert es nicht, dass die eigene Geschichte im post-sowjetischen historischen Diskurs quasi als Gegenbewegung zur bisherigen Fremdherrschaft als teleologisches Streben nach einem tschechischen respektive slowakischen Nationalstaat interpretiert worden ist. Dabei wurde in den neu erschienenen Standardwerken jedoch die Geschichte von religiösen und sprachlichen Minoritäten ignoriert und die Einbettung in den europäischen und globalen Kontext vernachlässigt. Der Verfasser setzt sich zum Ziel, die Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die allgemeine Geschichte zu integrieren.
Als theoretischer Rahmen dienen ihm die drei Prager Begründer der Nationalisierungstheorie: Hans Kohn, Karl Wolfgang Deutsch und Ernest Gellner. Alle drei Wissenschaftler hatten einen jüdischen oder jüdisch-christlichen Hintergrund, waren Empiristen und fokussierten auf ihre eigenen kollektiven wie auch individuellen Identitäten und Erfahrungen (3). Die Geschichte des tschechischen Nationalismus und dessen Verhältnis zu Minoritäten, insbesondere zur jüdischen, floss dadurch mit in die Theoriegenese ein. Dieser theoretische Zugang aus der eigenen Geschichte, den die drei genannten Theoretiker mit Bezug aufeinander entwickelten, scheint für die vorliegende Studie gewinnbringend.
Nach einer detaillierten Darstellung des theoretischen Zugangs ist das Buch chronologisch gegliedert, wobei jedes Kapitel eine historische Periode oder ein politisches Regime zum Thema hat. Zwar liegt der Fokus der Studie auf der Geschichte der Juden Böhmens, aber dennoch lässt der Autor den Prozess der Nationenbildung als roten Faden mitlaufen. Wein gelingt es, die komplexen Prozesse des tschechischen Nationalisierungsprozesses im Kontext der europäischen Geschichte detailgenau zu beschreiben und dabei die Interaktionen zwischen Tschechen und Juden, der deutschsprachigen Minderheit, den Slowaken sowie weiteren Minderheiten in den Mittelpunkt zu rücken.
In der großen Krise des Fin-de-siècle kam es in den böhmischen Ländern zu heftigen Ausschreitungen und zu Ritualmordprozessen. Diese ethnischen Säuberungen, wie der Verfasser sie nennt, hatten unter anderem den Zweck, Minderheiten aus dem Prozess der Nationenbildung auszuschließen. In der Tat unterschied sich Böhmen in Bezug auf die Judenpolitik, wie Wein in seiner Studie deutlich zu zeigen mag, nicht groß vom übrigen Europa. Im Ersten Weltkrieg wurde der Konflikt zwischen der jüdischen Bevölkerung und der tschechischen Nation durch unterschiedliche Sympathien für die Großmächte weiter angeheizt. Die Spaltung zwischen den Minderheiten wurde in der Vorkriegszeit vor allem auch durch die Presse und die von den politischen Parteien propagierte Desintegrationslosung "Jeder zu den Seinen" angetrieben. Auch nach Ende des Krieges und der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei spielte der Antisemitismus eine zentrale Rolle im nationalen Findungsprozess. Die Zwischenkriegszeit war gekennzeichnet von Judenfeindschaft und gelegentlichen Ausschreitungen gegen die jüdische, aber auch gegen andere Minderheiten. Zwar kam es in der liberalen Demokratie ganz vereinzelt zu politischer Partizipation von jüdischen Akteuren, diese blieb jedoch marginal. Die Instabilität der liberal-demokratischen Regierung und die einsetzende wirtschaftliche Depression führten schließlich zum Kollaps des geografisch und demografisch kaum zu regierenden Staates. Der Zerfall öffnete den Weg für die Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland. Die jüdische Bevölkerung fiel dem Holocaust zum Opfer. Nach dem Krieg wurden die wenigen Überlebenden von der Exilregierung, die einen rein slawischen Staat einzurichten versuchte, in die Emigration gedrängt. Im Zuge des Nationalisierungsprogrammes und der Vertreibung von Minderheiten in der sowjetisch protegierten Nachkriegstschechoslowakei gelangten die tschechischen Kommunisten an die Macht und errichteten einen zentralistischen Staat mit einem sowjettreuen Regime. Juden waren in der tschechischen Kommunistischen Partei seit den 1920er-Jahren stark präsent gewesen, dies endete jedoch 1952 mit dem Schauprozess gegen hochrangige Funktionäre.
Während sich die Tschechoslowakei im Umgang mit der jüdischen Minderheit nicht maßgeblich vom Rest Europas abhob, erkennt der Verfasser doch einige Spezifika: So kam es zum Beispiel in Prag zu engen Allianzen zwischen den deutschsprachigen Liberalen christlicher Denomination und der ebenfalls deutschsprachigen jüdischen Minderheit. Nach der Jahrhundertwende brach diese Allianz auf, und die deutsch-liberalen Juden schlossen sich dem Zionismus an. Die chronologische Darstellung wird nur einmal unterbrochen, indem Wein in zwei Kapiteln die jüdischen religiösen Strömungen und deren Entwicklung sowie die politischen Aktivitäten des tschechischen Judentums in den Jahren 1920-1938 genauer beleuchtet. Zudem streut er zehn biografische Skizzen ein, um das ansonsten sehr politikhistorische Narrativ besser fassbar zu machen.
Dem Autor gelingt es in dieser sehr dichten Studie, die Entwicklungen der tschechischen Nationswerdung und die Implikationen für die jüdische Minderheit im Detail aufzuarbeiten. Er zeigt dabei, wie der Nationalisierungsdiskurs beziehungsweise die Nationalisierungsdiskurse, im Kontext der europäischen Geschichte den Umgang mit Minderheiten beeinflussten. Für die Erforschung der jüdischen Geschichte erweist es sich als besonders gewinnbringend, dass Wein den Handlungsspielraum und innerjüdische politische Entwicklungen als Teil dieser Prozesse zur Sprache bringt. Auch wenn sich die Studie ihrer Dichte wegen teilweise etwas schwer lesen lässt, ist dem Verfasser eine Arbeit gelungen, die über die jüdische Geschichte hinaus als Standardwerk gelten muss.
Stefanie Mahrer