Menashe Unger / Frank Beer (Hgg.): Die Rabbis von Pschis'che und Kotzk. Spirituelle Meister des Chassidismus an der Schwelle zur Moderne. Aus dem Jiddischen von Daniel Wartenberg (= Hebrew Literature in Dialogue; Vol. 3), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2019, X + 295 S., ISBN 978-3-643-14421-8, EUR 39,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Das vorliegende Buch ist 1949 in Buenos Aires im jiddischen Original unter dem Titel Pshiskhe un kotsk in der Reihe Dos poylishe yidntum (Das polnische Judentum) erschienen und liegt nun erstmals in der Übersetzung von Daniel Wartenberg in deutscher Sprache vor. Die deutsche Ausgabe ist mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat des Übersetzers versehen. Obwohl in einer wissenschaftlichen Schriftenreihe erschienen, ist das Original nicht im engeren Sinne als wissenschaftliche Schrift einzuordnen, es handelt sich dabei vielmehr um einen ethnografischen Roman.
Menashe Unger (1899-1969) gehört zusammen mit Martin Buber (1878-1965) zu den Begründern einer neuen jüdischen literarischen Gattung, der chassidischen Geschichten. Die ursprünglich nur mündlich, innerhalb der eigenen Gemeinschaft tradierten Erzählungen über die chassidischen Rabbiner, ihre (Wunder-)Taten und Höfe, die Biografisches und Religiöses mit ethnografischen Beschreibungen vermischten, wurden in den Werken der beiden Autoren in eine schriftliche Form gebracht und somit erstmals der nicht-chassidischen Welt zugänglich gemacht. Während der Religionsphilosoph Buber, der in Wien geboren worden war und später in Berlin, Wien, Leipzig und Zürich studiert hatte, die chassidischen Geschichten aus einem wissenschaftlichen Interesse sammelte und übersetzte, stammte Unger selbst aus einer berühmten chassidischen Familie. Er wurde als Siebzehnjähriger zum Rabbiner ordiniert, verließ dann aber die chassidische Welt, studierte an der Universität Wien und trat der zionistischen Arbeiterbewegung bei. 1935 migrierte er nach Amerika, wo er sich während seiner ganzen Karriere mit chassidischen Erzählungen auseinandersetzte und sie publizierte. In seinem Werk vermischte er eigenes Erleben und schriftstellerische Analyse. So auch im vorliegenden Text, in welchem er ein Bild der chassidischen Gemeinschaft zu einem Zeitpunkt des inneren Zerfalls der chassidischen Frömmigkeit zeichnet.
In 35 kürzeren Kapiteln wird die Geschichte der Rabbis von Pschis'che (Przysucha) und Kotzk (Kock), ihrer Lehre und Höfe und damit auch die Geschichte des polnischen -Chassidismus von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert an bis zum Ableben von Rabbi Menachem Mendel von Kotzk, dem Kotzker Rebbe, im Jahr 1859 erzählt. Unger behandelt in seiner Darstellung weit mehr als nur die religiösen Fragen des Chassidismus. Zwar nehmen die (theologischen) Zerwürfnisse zwischen den rabbinischen Höfen, die zu Abspaltungen führen, einen wichtigen Stellenwert ein, der Autor beschreibt jedoch auch die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte des Chassidismus. Obgleich er eine durchaus wohlwollende Darstellung vorlegt, sind auch kritische Stellen zu vermerken, zum Beispiel wenn der Verfasser den übermäßigen Alkoholkonsum oder auch die Situation der Frauen und Kinder der Chassiden beschreibt, die teilweise monatelang ohne ihre Männer und Väter durchkommen mussten, weil diese an den rabbinischen Höfen ein religiöses und geselliges Leben führten, in dem die Familie keinen Platz hatte (zum Beispiel 232). In Ungers Beschreibungen tritt dabei das Menschliche und Weltliche der chassidischen Welt in den Vordergrund. Gleichzeitig versteht er die chassidische Gemeinschaft, trotz ihres Rückzuges in sich selbst, als Teil der allgemeinen jüdischen Geschichte wie der Geschichte der christlichen Mehrheitsbevölkerung, so widmet er sich der Auseinandersetzung mit den Maskilim (jüdischen Aufklärern) (Kapitel 23-24) oder aber auch der Rolle der Kotzker Chassidim im polnischen Novemberaufstand von 1830 gegen das russische Zarenreich (Kapitel 25).
Mit dem zu rezensierenden Werk liegt eine sorgfältige Übersetzung des jiddischen Originals vor. Etwas verwirrend und den Lesefluss störend dabei ist jedoch die nicht ganz verständliche Unterscheidung zwischen Fuß- und Endnoten im Anmerkungsapparat. So finden sich nicht alle Anmerkungen einheitlich am Seitenende, sondern teilweise auch am Ende eines jeden Kapitels. Für eine bessere historische und kulturelle Einordnung des Werkes wäre zudem eine etwas breitere Einführung, wie sie zum Beispiel die englische Ausgabe von Jonathan Boyarin bietet, wünschenswert gewesen, und schließlich hätte ein sorgfältiges Lektorat Redundanzen und kleinere Fehler im Anmerkungsapparat tilgen können. Diese Kritikpunkte schmälern jedoch den Wert der edierten Ausgabe dieses faszinierenden Textes keineswegs.
Stefanie Mahrer