Benedikt Konrad Vollmann (Hg.): Thomas von Cantimpré Liber de naturis rerum. Band 1: Kritische Ausgabe der Redaktion III (Thomas III) eines Anonymus (= Wissensliteratur im Mittelalter; Bd. 54.1), Wiesbaden: Reichert Verlag 2017, 688 S., ISBN 978-3-95490-253-8, EUR 110,00
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Die zu besprechende Edition hat einen der Bestseller des Mittelalters zum Gegenstand: [1] den Liber de naturis rerum, eine naturkundliche Enzyklopädie des um 1270 verstorbenen Thomas von Cantimpré. Dieser Text ist ein 'offenes Kunstwerk', denn abgesehen von den ersten zwei Redaktionsstufen (Thomas I/II), die Thomas selbst zu verantworten hat, gibt es noch eine weitere Redaktion (Thomas III), die einerseits drastisch kürzt [2], andererseits neues Material aufnimmt.
Zu Thomas I/II liegt bereits die Edition von Helmut Boese vor, der textkritische Anmerkungen und die Kommentierung einem zweiten Band vorbehalten hat, der nie erschienen ist. [3] Thomas III ist mit der vorliegenden Edition erschlossen; der Kommentar soll zu einem späteren Zeitpunkt nachgereicht werden (8).
Thomas III entstand um die Mitte des 13. Jahrhunderts im bairisch-österreichischen Raum; sie fächerte sich, nach einem zu erschließenden Urtext z, auf zwei Großfamilien x und y und entsprechende Untergruppen auf. Damit ist angedeutet, dass sich eine Edition der Thomas III-Redaktion sehr aufwendig gestalten musste, enthielt doch "jede Vollhandschrift mehr als 6200, jede Teilhandschrift ca. 2400 zu kontrollierende Stellen" (8).
Darüber hinaus stellt die Edition eines solchen Textes grundlegende methodische Fragen, die philologische Grundsätze betreffen: Ediert man in Lachmann-Manier einen idealen Text, oder sind alle Varianten legitim? Das ist nicht nur eine Frage der Gestaltung des textkritischen Apparates, sondern wirkt sich auch auf die Gestalt der Edition insgesamt aus.
Weite Teile der Einleitung werden von Helgard Ulmschneider bestritten (9-132), die die Kärrnerarbeit der Handschriftenbeschreibungen (42ff.) auf sich genommen hat. In den Passagen vor den Beschreibungen geht sie auf die chronologische und geographische Verteilung der Handschriften, die Soziologie der Schreiber und Verwahrenden und die Mitüberlieferungen im Falle von Sammelhandschriften ein. Dabei spricht sie immer wieder von Thomas IIIa und b (12, 15, 17, 18, 19, ...), die identisch sind mit den Großfamilien x und y. Es folgen Ausführungen zur Textgeschichte von Thomas III (133-139), die Klärung des Ziels der Edition und die Erläuterung der editorischen Entscheidungen (142-145). Ein zentrales Literatur- oder Abkürzungsverzeichnis oder einen Wortindex gibt es nicht; das beigegebene, sehr detaillierte Inhaltsverzeichnis orientiert über die in Büchern organisierte Struktur der Enzyklopädie.
Zu Beginn eines jeden Buches werden die zur Textkonstitution herangezogenen Handschriften angegeben. Der Editionstext wird von einem einzigen Apparat begleitet, der ca. 13580 Anmerkungen zu Textkritik, gelegentlich auch Similien, umfasst. Das gegenüber Thomas I/II aufgenommene Fremdgut wird fett gedruckt. Die Angabe der I/II-Lesarten ermöglicht es stellenweise, die Umarbeitung nachzuvollziehen; die Lesarten werden indes zuweilen etwas selektiv nachgewiesen (bspw. 214f.; vgl. auch 188).
Sprachlich ist an dem lateinischen Text nichts auszusetzen, was den Rahmen des Üblichen überschritte: Einige Kleinigkeiten haben sich den Korrekturlesern entzogen (bspw. 212: glorise[!] virginis Marie), hin und wieder könnten Leser anders interpungieren (bspw. 198, 513, 518) oder die Groß- und Kleinschreibung anders gestalten (bspw. 212) wollen.
Anlass zu Nachfragen gibt der Nachweis der "Quellen" (147): Es finden sich Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur (ohne Angabe einer Edition), und Boeses Edition von Thomas I/II. Eiligen Benutzern der Edition begegnen also Konrad von Megenberg, der etwa ein Jahrhundert nach Thomas von Cantimpré verstorben ist und seine Naturkunde ausschließlich auf Deutsch verfasst hat, wie auch die Boese-Edition als Vorlage des lateinischen Thomas III-Textes. [4]
Auch die Benennung der Ziele der Edition erscheint ein wenig widersprüchlich: Einerseits soll die Edition "die Entwicklung des Textes in der Abfolge der Redaktionen [...] verdeutlichen", andererseits sei es "unmöglich, eine Rekonstruktion von z, x und y zu versuchen. Selbst das Leithandschriften-prinzip [!] ist aus diesem Grund nicht praktikabel." (142) Ist nicht ein klares Bild der Redaktionsstufen vonnöten, will man deren Entwicklung verdeutlichen? Gleichwohl bestand der Optimismus, sich dem Urtext z annähern zu können (143). Hier stellen sich die zuvor angesprochenen Grundsatzfragen einer Edition: Alte oder Neue Philologie? Hin und wieder wird dem Rezensenten die Entscheidung nicht klar, da es sowohl Fälle von negativen wie auch positiven Apparaten gibt. Das führt dazu, dass Leser hin und wieder andere Lemmata bevorzugen würden - bei gleicher Ausgangsbasis (bspw. 151 bei Anm. 67 gegen 157 bei Anm. 241; 195 Anm. 1425 gegen 1426). An mindestens einer Stelle scheint das eigentlich verworfene Leithandschriftenprinzip dann doch befolgt worden zu sein; schließlich wurde gegen fast die vollständige Überlieferung, die alia hat, das Lemma animalia gewählt (154, Anm. 136). Das mag dem Argument der lectio difficilior geschuldet sein, das aber in Kapitel 3, in dem die editorischen Richtlinien dargelegt werden, nicht als Kriterium angeführt wurde. Vollmann hat sich 2003 dazu geäußert und präferierte damals einen dreifachen Abdruck nach Leithandschriften. [5]
Ebenso hat Vollmann die Benutzung von Thomas III durch Konrad von Megenberg als ein Editionsinteresse benannt. [6] Gleichwohl stellt sich die Frage, ob das Interesse an den Vorlagen Konrads in einer Edition dieser Vorlagen, oder nicht besser in einer Arbeit zu Konrad von Megenberg aufgehoben wäre. Diese Überlegung betrifft einige Passagen der Einleitung (9-21), aber auch die Auswahl der Handschriften: Schon in der Handschriftenbeschreibung wird festgehalten, dass die häufig herangezogene Handschrift Kl4 fehlerbehaftet ist (69f.). Angesichts der Anzahl der Fehler mag man sich fragen, weshalb sie überhaupt herangezogen wurde, entfällt doch auf einigen Seiten fast die Hälfte der textkritischen Anmerkungen nur auf diese eine Handschrift (bspw. 169); sie erhält ihre Bedeutung allein durch die Nähe zu Konrad von Megenberg.
Insgesamt liegen nun die Texte der zwei wichtigsten Stränge der Thomas-Überlieferung in Edition vor, was angesichts der komplexen Überlieferungslage kein geringes Verdienst ist. Die obigen Kritikpunkte werden erst durch eine kritische Edition ermöglicht. Ihr ganzes Potential wird die Edition aber vermutlich erst mit Erscheinen des Kommentars entfalten - und ein Kommentar ist dringend erwünscht, da beispielsweise einige Worte derart selten sind, dass sie fast schon ein Hapax Legomenon darstellen. [7]
Anmerkungen:
[1] Allein für Thomas III sind 109 Handschriften bekannt (23-26), die somit den Südosten des Reiches gegenüber Thomas I/II eindeutig dominiert.
[2] Benedikt Konrad Vollmann: Enzyklopädie im Wandel: Thomas von Cantimpré, De natura rerum, in: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit, hg. v. Christel Meier, München 2002, 169-180, hier 169, spricht von 40%, die für Thomas III übernommen worden sind.
[3] Thomas Cantimpratensis: Liber de Natura Rerum. Editio princeps secundum codices manuscriptos I: Text, hg. v. Helmut Boese, Berlin / New York 1973. Um welche codices manuscriptos es sich genau handelt, erfährt man nicht. Vgl. auch die vom IRHT betreute online-Kommentierung der Enzyklopädien (http://sourcencyme.irht.cnrs.fr/encyclopedie/voir/172. Abruf am 08.12.2017.).
[4] Zum deutschen Text konsultiert: Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur II: Kritischer Text nach den Handschriften, hg. v. Robert Luff / Georg Steer, Tübingen 2003. Zu einer weiteren Vorlage vgl. 211, Anm. 1930.
[5] Benedikt Konrad Vollmann: Edition von Texten mit hoher Überlieferungsdichte. Thomas' von Cantimpré De naturis rerum (Thomas III) als Musterfall, in: Schrift - Text - Edition. FS Hans Walter Gabler, hgg. v. Christiane Henkes / Walter Hettche / Gabriele Radecke / Elke Senne, Tübingen 2003, 87-96, hier 92.
[6] Vollmann, Edition von Texten (wie Anm. 5), 93.
[7] Etwa das Wort sepo (151) lässt sich in der LLT-A nur je einmal im Nominativ und einmal im Genitiv finden, gängige Wörterbücher verzeichnen das Wort nicht (auch bei zu unterstellender klassischer Schreibung) und auch der DuCange kennt kein sepo.
Andreas Kistner