Sharon A. Farmer: The Silk Industries of Medieval Paris. Artisanal Migration, Technological Innovation, and Gendered Experience (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2017, IX + 354 S., 28 s/w-Abb., ISBN 978-0-8122-4848-7, GBP 60,00
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Das spätmittelalterliche Paris war ein wichtiges Zentrum des Handels und der Herstellung von Luxusgegenständen. Als solches hat es in den letzten Jahren wiederholt die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen, etwa in Studien zu kostbar illuminierten Handschriften oder minutiös geschnitztem Elfenbein. [1] Weniger beachtet blieb, dass die französische Metropole auch eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Produktion luxuriöser Seidentextilien spielte - einem Handwerk, das in Europa im Mittelalter hauptsächlich auf den Mittelmeerraum beschränkt war.
Diesem Thema nimmt sich die Historikerin Sharon Farmer in ihrem neuen Buch auf ebenso innovative wie kreative Weise an. Die Autorin verwendet das Material Seide als Aufhänger, an dem sie Untersuchungsgegenstände wie Migration, handwerkliche Innovation und geschlechtsspezifische Hierarchien im Kontext der Pariser Textilproduktion an der Schwelle vom 13. zum 14. Jahrhundert festmacht. Neben Zunftstatuten, zivil- und strafrechtlichen Schriftquellen sowie Inventaren und Haushaltsbüchern verschiedener nordeuropäischer Königs- und Fürstenhöfe sind es vor allem die prosopografischen Daten der Pariser Steueraufzeichnungen aus den Jahren 1292 bis 1313, die der Autorin als Materialbasis für ihre außerordentlich detailliert und dicht recherchierte Studie dienen.
In Kapitel 1 skizziert Farmer die Umstände, unter welchen Paris sich zu einem Zentrum des Handels und der Produktion von Luxusgütern entwickeln konnte. Neben der Pariser Universität, die internationale Studenten und Gelehrte anzog, waren es vor allem die Präsenz des königlichen Hofes sowie dessen dynastische Heiraten und militärische Eroberungen, welche die Stadt mit den Regionen des Mittelmeerraumes verknüpften. Auch die in der Stadt ansässigen italienischen Handels- und Bankiersunternehmen trugen zu einem regen Austausch zwischen der französischen Metropole und den mediterranen Ländern bei. Diese Netzwerke, so Farmer, ermöglichten es in Verbindung mit dem in der Stadt vorhandenen Kapital und Interesse an Luxusgütern, dass Paris zu einem attraktiven Ziel für hochqualifizierte Seidenverarbeiter und -verarbeiterinnen aus den mediterranen Regionen wurde.
Das Material Seide selbst steht im Zentrum von Kapitel 2. In anschaulicher Weise verfolgt die Autorin die Reise der kostbaren Faser von den asiatischen und mediterranen Zentren der Seidenraupenzucht bis nach Paris und zeigt, dass die Stadt über den Mittelmeerraum hinaus auf globaler Ebene auch mit Asien und Zentralasien in Verbindung stand. Wie Sarah Guérin gezeigt hat, lässt sich Vergleichbares auch für das Elfenbein, welches über ähnliche Handelsrouten nach Paris gelangte, konstatieren. [2] Farmer widmet sich sodann den einzelnen Arbeitsschritten, welche für die Verarbeitung der Seidenfaser notwendig waren, und zeigt, dass das Haspeln, Spinnen, Färben und Weben von Seide im Unterschied zu anderen Fasern spezielles technisches Know-how erforderte, das von auswärtigen Arbeitskräften nach Paris importiert wurde.
Diese immigrierten Seidenfachkräfte sowie ihre Rolle im sozialen, wirtschaftlichen und räumlichen Gefüge der Stadt stehen im Fokus von Kapitel 3. Farmer hebt hier die wichtige Scharnierposition der Pariser Stoffhändler hervor, welche, oft selbst nach Paris zugewandert, nicht nur die fertigen Seidenprodukte verkauften, sondern teilweise auch deren Produktion beaufsichtigten und steuerten. Die Stoffhändler residierten in den Händlervierteln der Stadt, und über die Pariser Steueraufzeichnungen kann die Autorin nachweisen, dass die Seidenarbeiter- und arbeiterinnen sich oft in der Nähe derjenigen Händler, die aus derselben Region wie sie selbst stammten, niederließen. Die Steuerunterlagen zeigen auch, dass Fachkräfte aus allen wichtigen Zentren der mediterranen Seidenproduktion in Paris ansässig waren. Sie verzeichnen Personen aus der Levante, aus dem byzantinischen Reich, aus Zypern, von der Iberischen Halbinsel, sowie aus Venedig und Lucca.
Wie in anderen europäischen Textilmetropolen auch spielten Frauen eine tragende Rolle in der Pariser Seidenproduktion. Kapitel 4 widmet sich den komplexen Hierarchien, innerhalb derer sich die Pariser Seidenfrauen bewegten, und die von Faktoren wie Einkommen, handwerklichem Geschick, Investitionsmöglichkeiten und wirtschaftlicher Unabhängigkeit beeinflusst wurden. Hier lohnt sich ein Blick über die Grenzen Frankreichs hinaus: Ähnlich wie es im Zusammenhang mit den Londoner Opus Anglicanum Stickern und Stickerinnen zu beobachten ist [3], dominierten in Paris Männer jene Positionen, die mit gesellschaftlich hohem Status oder mit Handelsfunktionen verbunden waren. Dennoch scheinen die Pariser Seidenfrauen, deren individuelle Schicksale die Autorin einfallsreich den Quellen entlockt, ein vergleichsweise hohes Ansehen genossen zu haben - im Unterschied etwa zu ihren italienischen Kolleginnen.
Sharon Farmer schließt ihre Studie mit einem Kapitel über die Beziehungen zwischen den Pariser Seidenfrauen und zwei Randgruppen der Pariser Gesellschaft, nämlich jüdischen und italienischen Geldverleihern. Sie vermutet, allerdings auf weniger dichter Quellenbasis, dass die Frauen jüdische Männer und Frauen zur Aufnahme von Krediten bevorzugten, da die italienischen Bankiers, durchwegs Männer, die oft ohne ihre Familien nach Paris emigriert waren, im Ruf sexueller Aggression standen und negativ stereotypisiert wurden. Pariser Juden und Jüdinnen scheinen jedoch nicht nur die Rolle von Geldverleihern eingenommen zu haben, sondern ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch direkt in die Seidenproduktion involviert gewesen zu sein. Dies lässt die Autorin vermuten, dass über Kontakte zu nordfranzösischen und mediterranen jüdischen Gemeinden ein weiteres Netzwerk zu verfolgen ist, über das technisches Wissen tradiert wurde.
Die von der Autorin zusammengetragene Fülle an Quellenmaterial ist nicht zuletzt von unschätzbarem Wert für diejenige Leserschaft, die sich im Rahmen von Textil- und Kunstgeschichte mit mittelalterlicher Seidenproduktion beschäftigt. [4] Wie bereits mehrfach angedeutet, bietet sie zahlreiche Anknüpfungs- und Vergleichsmöglichkeiten für zukünftige Forschungen, sei es zur Produktion anderer Luxusgüter in Paris, sei es zur Herstellung hochwertiger Textilien in anderen Teilen Europas.
Gerade aus kunsthistorischer Sicht ist jedoch anzumerken, dass mancherorts ein etwas sorgfältigerer und kritischerer Umgang mit den Abbildungen, welche die Studie begleiten, wünschenswert gewesen wäre. Beispielsweise verwendet die Autorin aufgrund mangelnden visuellen Quellenmaterials aus früherer Zeit eine Anzahl von Illustrationen aus einem Florentiner Traktat zur Seidenherstellung, das erst 1489 verfasst wurde. [5] Hier hätte man sich die gleiche Sorgfalt, welche die Autorin den Schriftquellen zukommen lässt, gewünscht und eine zumindest kurze Problematisierung des (verständlichen) zeitlichen und geografischen Bruchs begrüßt. Dies tut der Qualität des Buches insgesamt jedoch keinerlei Abbruch.
Sharon Farmers Studie ist ohne Zweifel ein wichtiger Beitrag zur Migrations-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie zur Geschlechter- und Textilgeschichte des Spätmittelalters. In der Behandlung der angesprochenen Themen kann sie jedoch auch als Kommentar zu Fragen des gegenwärtigen politischen Diskurses gelesen werden - ohne dass dadurch der historische und wissenschaftliche Anspruch beeinträchtigt würde. Nicht zuletzt darin liegt eine wesentliche Stärke des Buches.
Anmerkungen:
[1] Richard H. Rouse / Mary H. Rouse: Manuscripts and their Makers. Commercial Book Producers in Medieval Paris 1200-1500, Turnhout 2000; Katherine Eve Baker: 'La Chambre aux dentz d'yvoire'. An Introduction to the Inventory of Chicart Bailly, in: Gothic Ivory Sculpture. Content and Context, ed. by Catherine Yvard, London 2017, 68-75.
[2] Sarah M. Guérin: Avorio d'ogni ragione: the Supply of Elephant Ivory to Northern Europe in the Gothic Era, in: Journal of Medieval History 36 (2010), 156-174.
[3] Glyn Davies: Embroiderers and the Embroidery Trade, in: English Medieval Embroidery. Opus Anglicanum, ed. by Clare Browne / Glyn Davies / M.A. Michael, London 2016, 41-47.
[4] Exemplarisch: Juliane von Fircks / Regula Schorta (eds.): Oriental Silks in Medieval Europe, Riggisberg 2016.
[5] Trattato dell'arte della seta, Florenz, Biblioteca Laurenziana, Plut. 89 sup. cod. 117.
Michaela Zöschg