Peter Wegenschimmel: Zombiewerften oder Hungerkünstler? Staatlicher Schiffbau in Ostmitteleuropa nach 1970 (= Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte; Bd. 33), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, X + 265 S., 10 s/w-Abb., 5 Tbl., ISBN 978-3-11-073937-4, EUR 59,95
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Forschungen zur Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Mittel- und Osteuropa nach dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90 haben in den vergangenen Jahren nicht nur den Transformationsbegriff selbst, sondern auch die dahinterstehenden historischen Prozesse und - mit der Frage nach einer Ko-Transformation in Westeuropa - die geographische Beschränkung auf die Länder des ehemaligen Ostblocks problematisiert. Dass in den Ländern Mittel- und Osteuropas nicht innerhalb weniger Jahre ein staatlich-sozialistisches gegen ein staatsfernes kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ausgetauscht wurde, sondern die Abläufe komplexer und die Übergänge langfristiger waren, ist inzwischen wohl Konsens. Wie sich die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft aber auf der Mesoebene der Branchen beziehungsweise auf der Mikroebene einzelner Unternehmen entwickelten, ist bisher - auch wegen der forschungspraktischen Herausforderungen - viel weniger in den Blick genommen worden.
In diesen Kontext ordnet sich das Buch von Peter Wegenschimmel zur Entwicklung des Schiffbaus in Polen und Jugoslawien beziehungsweise Kroatien von den frühen 1970er Jahren bis in die Gegenwart ein. Als Dissertation bei zwei Protagonisten der Transformationsforschung - Ulf Brunnbauer und Philipp Ther - entstanden und mit dem Preis der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V. ausgezeichnet, untersucht der Autor auf der Grundlage zeitgenössischer Presse und Publizistik, Archivmaterial und rund zwei Dutzend Interviews die Entwicklung der Werften Gdynia (Pariser Kommune) in Danzig und Uljanik in Pula. Eingebunden war die Dissertation in Forschungen des "Werftenkollektivs". [1]
Gdynia ging 2009 in die Insolvenz, Uljanik in Kroatien folgte zehn Jahre später, und in beiden Fällen waren die Zusammenbrüche der Traditionsunternehmen für die Länder traumatisch. Dabei ging es nicht nur um die Arbeitsplätze, sondern die Schiffbauindustrie war ähnlich wie in anderen europäischen Ländern ein Wirtschaftszweig mit politischen Privilegien und besonderer nationaler Bedeutung. Zudem war es zuvor über ein halbes Jahrhundert hinweg immer gelungen, selbst massive Krisen und externe Schocks zu überstehen, staatliche Hilfen zu mobilisieren und sich "durchzuwursteln" (3), während der Schiffbau in Westeuropa bereits in den 1970er und 1980er Jahren Einschnitte und Werksschließungen hatte hinnehmen müssen. [2] Die zentrale Frage ist für den Autor damit nicht, warum die beiden Unternehmen in Konkurs gingen - wegen der Grenzen, die das Beihilferecht der EU staatlichen Finanzspritzen setzte -, sondern warum diese Konkurse erst so spät erfolgten und wie die Unternehmen unter den politischen Bedingungen des Sozialismus und Postsozialismus bis dahin funktioniert hatten. Schließlich waren beide, abgesehen von kurzen Zwischenphasen, seit Jahrzehnten unrentabel.
Grundsätzlich konnten die Werften als staatsnahe Unternehmen und aufgrund ihrer herausgehobenen Rolle als Devisenbringer, als Arbeitgeber und als Träger lokaler Sozialpolitik darauf vertrauen, Verluste aus dem Staatshaushalt ersetzt zu bekommen. Die Staatsnähe beziehungsweise die faktische oder tatsächliche Eigentümerschaft des Staates blieb in Schlüsselindustrien wie dem Schiffbau ungeachtet neoliberaler Rufe nach Privatisierungen auch im Postsozialismus erhalten. Allerdings belegt die Studie eindrucksvoll, dass der postsozialistische Staat die damit verbundenen Kontrollfunktionen nicht adäquat ausübte und damit unrentablen Unternehmen und ihren Beschäftigten bemerkenswerte Handlungsspielräume eröffnete. Angelehnt an die neoinstitutionalistische Organisationstheorie, arbeitet Wegenschimmel in Form einer Mehrebenenanalyse heraus, wie dies konkret gelang, welche Pfadabhängigkeiten bestanden und welche Legitimationsstrategien die Unternehmen anwandten.
Die Studie ist dabei nicht chronologisch aufgebaut, vielmehr stellt der Autor nach einer kurzen Einführung in die Besonderheiten des Schiffbaus und in die Vorgeschichte der beiden 1922 (Gdynia) beziehungsweise 1856 (Uljanik) gegründeten Werften in fünf Hauptkapiteln jeweils unterschiedliche Perspektiven in den Mittelpunkt. Jedes dieser Kapitel gliedert sich in zwei Hälften für die sozialistische und die postsozialistische Phase mit je zwei Unterkapiteln für die beiden Fallstudien. Mit dieser strikten Form der Gliederung sind allerdings gelegentliche inhaltliche Überschneidungen verbunden.
Im ersten Kapitel geht es zunächst um die staatlichen Subventionen, die beide Werften am Leben erhielten und die im Sozialismus wie im Postsozialismus auf unterschiedlichen Wegen flossen, bis dies nach den EU-Beitritten Polens 2004 und Kroatiens 2013 nicht mehr möglich war. Wegenschimmel zeichnet nach, wie die Produktion Vorrang vor der Erzielung von Profiten hatte und hebt den situativen Charakter der Subventionen hervor, die anders als im Westen weder vor noch nach 1989/90 von kohärenten Strukturreformen für die Unternehmen begleitet waren. Im zweiten Kapitel richtet sich der Blick auf die staatlichen Funktionsträger und deren Aufsichts- und Kontrollfunktionen, die über weite Strecken klar definierte Ziele vermissen ließen. Wegenschimmel beschreibt die Schwäche des Staates, die bereits in den letzten Jahren des Sozialismus bestand und sich nach 1989/90 vor allem in Polen mit wechselnden politischen und personellen Konstellationen und einer mäandernden Privatisierungspolitik fortsetzte.
Im dritten und vierten Kapitel stehen die Restrukturierungen der Unternehmen und deren Legitimationsstrategien im Mittelpunkt. Der Autor zeichnet zunächst den Organisations- und Technologiewandel auf Unternehmensebene nach, der im Sozialismus und darüber hinaus neben brancheninternen Logiken staatlichem Einfluss von oben unterlag, aber von unten ausgebremst beziehungsweise im Interesse eigener Ziele - zum Beispiel der Fortführung des hohen Beschäftigungsgrades statt Rationalisierung und Automatisierung der Produktion - angepasst wurde. Die Verhandlungsmacht der Direktoren gegenüber dem Staat beruhte auf komplexen strukturellen, ökonomischen und instrumentellen Faktoren. Hohe Beschäftigtenzahlen und vorübergehende Exporterfolge sicherten ihre Position vor und nach 1989/90 und verschleierten zeitweise die tatsächliche wirtschaftliche Lage der Werften.
Darüber hinaus stärkten die im fünften Kapitel diskutierten sozialpolitischen Funktionen und lokalen Verflechtungen die Unternehmen. Denn auf der lokalen Ebene waren die Werften öffentliche Unternehmen, nicht im Sinne der Besitzverhältnisse, doch standen sie mit der sie umgebenden Gesellschaft in einem engen Austausch und bildeten auch im Postsozialismus einen wichtigen Teil der städtischen Identität.
Die Mikrostudie Wegenschimmels bietet einen wertvollen Beitrag zur inhaltlichen Grundierung und Ausdifferenzierung der Transformationsforschung im Bereich der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Die detaillierte Analyse des Verhältnisses von Staat und Unternehmen über den langen Untersuchungszeitraum hinweg und der differenzierte Blick auf den fundamentalen Wandel, dem beide Seiten bereits im Spätsozialismus und dann vollends nach 1989/90 unterlagen, führt zu überzeugenden Ergebnissen. Allerdings machen das Abstraktionsniveau und die Schematik der Darstellung die Lektüre selbst nicht immer leicht. Kritisch anzumerken bleibt zudem, dass die Anschlussfähigkeit der Studie erhöht worden wäre, wenn der allgemeinhistorische Kontext breiter ausgeleuchtet worden wäre. Kenntnisse über die politischen Verhältnisse in Polen und Kroatien werden im Grunde vorausgesetzt, Personen und programmatische Schwerpunkte der Regierungen nur kurz gestreift.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ulf Brunnbauer u.a.: In den Stürmen der Transformation. Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU, Berlin 2022.
[2] Vgl. Sarah Graber Majchrzak: Arbeit - Produktion - Protest. Die Leninwerft in Gdańsk und die AG "Weser" in Bremen im Vergleich (1968-1983), Köln 2021.
Christoph Strupp