Emanuel Zingg: Isokrates: Archidamos. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar (= Syssitia - Studien zur Geschichte und Kultur Spartas und Sparta-Rezeption; Bd. 2), Düsseldorf: Wellem Verlag 2017, 2 Bde., XXI + 827 S., ISBN 978-3-941820-20-3, EUR 99,00
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Der Archidamos gehört zu einer Serie von Reden, Pamphleten und Briefen, mit denen Isokrates die politische Situation in Hellas im 4. Jh. v. Chr. zu beeinflussen versuchte. Der Archidamos spielt in einer Zeit großer politisch-militärischer Umwälzungen für Sparta nach dem Verlust seiner Hegemonialstellung in Griechenland infolge der Niederlage von Leuktra 371 und angesichts der Auflösung des Peloponnesischen Bundes. Das dramatische Datum ist wohl 366/5, zu dem Isokrates den Königssohn Archidamos in der spartanischen Volksversammlung eine symbuleutische Rede halten lässt, in der er gegen die Annahme eines von Theben und spartanischen Verbündeten vorgeschlagenen Friedens spricht, weil dieser die Anerkennung der Selbständigkeit Messeniens durch Sparta eingeschlossen hätte. Archidamos beharrt dagegen auf Spartas legitimem Anspruch auf Herrschaft über Messenien und einer Vormachtstellung auf der Peloponnes. Nach Zinggs Auffassung wurde die Rede bereits kurz nach dem dramatischen Datum von Isokrates verfasst (80). Der Archidamos stand bisher nur selten im Fokus der Isokratesforschung; die bisher ausführlichste deutsche Übersetzung mit Kommentaren stammte noch von Gustav Eduard Benseler (1854). Zinggs überarbeitete Züricher Dissertation in zwei umfangreichen Teilbänden macht diese Rede nun zu einer der am gründlichsten kommentierten Schriften des Isokrates. Die Monographie wird durch fünf Aufsätze und eine weitere Monographie Zinggs aus den Jahren 2011-2017 um wichtige Aspekte ergänzt [1] und dürfte zu einer positiveren Neubewertung der Qualitäten der Rede führen. Dagegen hatten mehrere ältere Beiträge, Barthold Georg Niebuhrs Verdammungsurteil als "Stubendeclamation, bloßes Geschwätz ohne weiteren Zweck" [2] folgend, zwar die rhetorischen Qualitäten des Archidamos als Exempel isokrateischer Kunstprosa anerkannt, aber der Rede jede historische Relevanz abgesprochen.
Der Teilband 1 bietet eine "Einleitung" von monographischem Umfang (1-477) zu Handschriften und Editionen des Archidamos, zur Gliederung der Schrift (überzeugend 38-39) und ihrer Stellung innerhalb von Isokrates' Werk, zur Erzählung von der 'Rückkehr der Herakliden' und ihrer Eroberung von Teilen der Peloponnes sowie zu den Messenischen Kriegen als Legitimation von Spartas Herrschaft über Messenien, den Zielen des Archidamos und der (geringen) Rezeption dieser Schrift bis in die frühe Neuzeit. Nach Zingg ist das hohe Lob Spartas im Archidamos mit drei außenpolitischen Grundprinzipien der isokrateischen Schriften, einem panhellenischen Krieg gegen Persien, der Eintracht unter den Griechen und einer führenden Stellung Athens, "durchaus vereinbar" (81). Zingg sammelt (99-115) Belege für wichtige populärethische Ansichten im Archidamos. Daraus ergibt sich für die Werte und Visionen im Archidamos (80-121) eine wenig originelle Reihe isokrateischer 'common sense-Ethik'. Isokrates lässt allerdings Archidamos ein extrem radikales Kriegskonzept als visionäre ultima ratio spartanischer Militärpolitik zur Wiedererlangung der Herrschaft über Messenien entwickeln (§ 73-86, Zingg 116-121, vgl. Zingg 2014, wie [1]), nämlich die rücksichtslose Führung des Krieges nur durch die spartanische Armee und "ohne Unterstützung durch und Schutzauftrag für die Zivilbevölkerung und das Heimatterritorium" (116) auf der Basis der Idee von Sparta als einem extraterritorialen Staat als mobiles Heerlager (ähnlich Nikias bei Thuk. 7,77,4). Zingg spricht vorsichtig (zu § 73-86) vom Plan eines 'absoluten Kriegs' (im Unterschied zum historisch jüngeren 'totalen' Krieg). Eine solche Kriegführung wäre noch weit hinausgegangen über die Preisgabe Athens und Attikas und die Verlagerung der kampffähigen Bürgerschaft auf die Flotte vor Salamis 480 (§43 und 83) oder den Anspruch der demokratischen athenischen Flotte 411, während der Herrschaft der Oligarchen in der Heimatstadt den Staat Athen zu bilden. Zeitgenössische Kritik an Isokrates' Positionen wurde von mehreren Philosophen und Sophisten geübt, z. B. Platon, Alkidamas, Kallistratos und Speusippos (122-149). Besonders bedauerlich ist, dass der promessenische Messeniakos des Alkidamas (133-137) nur extrem fragmentarisch bezeugt ist. Denn er beweist, wie umstritten die spartanischen Herrschaftsansprüche über Messenien in der griechischen Publizistik bereits vor der patriotischen messenischen Lokalhistoriographie waren. Isokrates bietet im Archidamos die früheste erhaltene ausführliche Darstellung des Mythos der Rückkehr der Herakliden auf die Peloponnes, mit dem noch im 4. Jh. Herrschaftsansprüche Spartas begründet wurden (150-203). Unter den Zielen des Archidamos betont Zingg (206-235) außer der Rückeroberung Messeniens die Unterstützung von pro-spartanischen und thebenkritischen Gruppierungen und Stimmungen in Athen und Hellas, die Vermittlung eines positiven Bildes von dem zukünftigen spartanischen König Archidamos und die Verwendung der Rede als Unterrichtsmittel der isokrateischen Schule. Zwei längere philologische Abschnitte der Einleitung widmen sich dem Hiat und dem Prosarhythmus im Archidamos (236-364). Zingg zufolge lässt sich ein rein metrischer Prosarhythmus in Isokrates' Schriften jedoch noch nicht nachweisen. Der Teilband 1 schließt mit einem kritischen Text mit deutscher Übersetzung des Archidamos (414-477). Der griechische Text entspricht weitgehend einer durch Zingg geplanten Neuedition des Archidamos innerhalb der Oxford Classical Texts. Die deutsche Übersetzung ist flüssig lesbar und zuverlässig.
Der Teilband 2 enthält einen gründlichen philologisch-historischen Zeilenkommentar zum Archidamos (478-691), Studien zur Hypothesis zu dieser Rede mit kritischem Text, Übersetzung und Zeilenkommentar, ein ausführliches Literaturverzeichnis und mehrere hilfreiche Indices. Zingg strukturiert den Kommentar nach den vier Hauptteilen der Rede, dem Prooimion § 1-15, der Dihegesis § 16-23, der fünfteiligen Pistis § 24-106 und dem Epilogos § 107-111. Während die philologisch-rhetorischen Kommentare erschöpfend gründlich sind, findet der Benutzer wichtige Ergänzungen zum historischen Kontext auch bereits im Einleitungsteil. Zu Recht betont Zingg z. B. den innovativen Gebrauch historischer Paradeigmata [3] in dieser Rede, z. B. die Trias Pedaritos, Brasidas und Gylippos als vorbildliche Spartaner (§ 52-57). Exzellente Kommentarpassagen findet man auch z. B. zu der Evakuierung Phokaias und der Gründung Massilias (642-654) oder zur Schlacht der 300 bei Thyreai zwischen Spartanern und Argivern (671-677).
Zinggs gründliche Monographie ist primär nützlich für die derzeit intensiven Forschungen zu Isokrates und zur klassischen attischen Rhetorik, kann aber auch allen Lesern empfohlen werden, die an der Geschichte und Kultur des klassischen Sparta sowie dem antiken Sparta-Bild außerhalb Spartas interessiert sind.
Anmerkungen:
[1] Vgl. insb. für Historiker wertvoll: E. Zingg: Absoluter Krieg in der Antike? Isokrates (Archidamos § 73-86) im Vergleich mit Clausewitz, Daudet und Ludendorff, A&A 60, 2014, 113-140, sowie ders.: Die Schöpfung der pseudohistorischen westpeloponnesischen Frühgeschichte. Ein Rekonstruktionsversuch (Vestigia; Bd. 70) München 2016.
[2] Niebuhr: Vorträge über Alte Geschichte, Berlin 1848, 300.
[3] Vgl. hierzu auch Thomas Blank: Logos und Praxis. Sparta als politisches Exemplum in den Schriften des Isokrates (Klio Beihefte N.F. Bd. 23), Berlin 2014.
Johannes Engels