Jeannette van Laak: Einrichten im Übergang. Das Aufnahmelager Gießen (1946-1990), Frankfurt/M.: Campus 2017, 420 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-50810-8, EUR 39,95
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Die Aufnahme von Flüchtlingen steht durch die Ereignisse der letzten Jahre ganz oben auf der Agenda. Und das nicht nur tagespolitisch, sondern auch wissenschaftlich. Im Fokus stehen dabei oft die Aufnahmebedingungen und die seit den 1940er Jahren errichteten Aufnahmelager in der Bundesrepublik und West-Berlin, insbesondere in Friedland und Berlin-Marienfelde. Diesen Forschungstrend ergänzt nun eine neue Studie zum Aufnahmelager in Gießen. Sie zeigt: Auch Aufnahmelager sind nur Behörden. Und wenn die Dienstzeit um ist, gibt es keine Bearbeitung der Ankommenden mehr. Könnte man meinen. Die Gießener Habilitationsschrift belehrt uns aber eines Besseren, denn nicht alle Dienststellen legten diese Haltung an den Tag - woraus sich 1979 ernste Differenzen zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen ergaben.
Das ist nur eine von vielen Erkenntnissen, die sich aus der Nahaufnahme des Lagers Gießen ergeben. Jeannette van Laak zeichnet die Geschichte des Aufnahmelagers nach - eines von ursprünglich drei Notaufnahmelagern für die aus der DDR in den Westen kommenden Menschen, neben Uelzen-Bohldamm und Berlin-Marienfelde. Sie wurden hier erstversorgt und überprüft, um nach erfolgreicher Aufnahme auf die Bundesländer verteilt zu werden. Die Autorin erweitert die klassische Sicht der Historikerin um die Erfahrungsdimension, indem sie den Akten ausführliche Interviews mit Betroffenen und Mitarbeitern gegenüberstellt. Das ist gewinnbringend, auch weil es ihr gut gelingt, Einzelschicksale und Clusterbildung zu verbinden.
Die Autorin legt das Aufnahmelager gleichsam unters Mikroskop. Dadurch erkennt der Leser Details, wie sie bislang noch kaum zu sehen waren. Im Mittelpunkt stehen das Aufnahmeverfahren inklusive seiner politischen Bedeutung und die Dienststellen, die für die Aufnahme und Befragung der Ankommenden zuständig waren. Die Mikroperspektive, durch den Wechsel von systematischer und chronologischer Erzählung noch verstärkt, hat ihre Längen, fördert aber eine Reihe wichtiger Erkenntnisse zu Tage.
In Auseinandersetzung mit der Forschung zu Lagern erkennt die Autorin in den Aufnahmelagern eine "spezifische Lagerform" (12) und bezeichnet sie als "Funktionsort", der "dazu diente, die Übersiedler für die Dauer des Verfahrens zu beherbergen und zugleich Amtsstuben für die Mitarbeiter des Verfahrens zur Verfügung zu stellen" (384). Hier wurden die verschiedenen Aufgaben gebündelt. Der Unterschied der effektiven Aufnahmelager, die die Ankommenden meist in weniger als fünf Tagen unterbrachten, versorgten, untersuchten, befragten und weiterleiteten, zu anderen Lagertypen, besonders solchen mit Zwangscharakter, sind so offensichtlich, dass diese Bewertung wenig überrascht.
Das Erfolgsrezept des Lagers war seine Flexibilität. Das zeigte sich um 1950, als sich die Bedingungen im Lager aus einem Notbehelf mit vielen provisorischen Zügen zu einem geregelten behördlichen Verfahren entwickelten. Nach 1961, als der Mauerbau den Flüchtlingsstrom nahezu zum Versiegen brachte, stand das Lager vor der Frage: Auflösen oder eine neue Rolle finden? Man entschied sich für Letzteres. Ende der 1980er Jahre wirbelten die anschwellenden Zuwandererzahlen den Regelbetrieb tüchtig durcheinander, und die Mitarbeiter konnten nur in Sonderschichten und mit provisorischen Unterkünften dem Ansturm Herr werden. Gerade diese Anpassungsfähigkeit befähigte das Aufnahmelager, seine Grundaufgabe dauerhaft zu erfüllen.
Worin aber bestand diese Kernaufgabe? Van Laak beschreibt die Aufnahmeprozeduren mit den unterschiedlichen Akteuren in den verschiedenen Zeitphasen, kommt am Ende jedoch zu der Vermutung, dass das Notaufnahmeverfahren nur deshalb über die Jahre aufrechterhalten worden sei, um den Geheimdiensten ihre Arbeit zu ermöglichen. Auch wenn man erfährt, dass die Geheimdienste eine höhere Miete an das Land (den Betreiber) entrichteten als der Bund mit seinen Dienststellen, weil sie mehr Räume nutzten, scheint diese Sicht überzogen: In der Tat war zwar der politische Kern des Aufnahmeverfahrens, die Entscheidung über die Aufnahme der Ankommenden in der Bundesrepublik, schon Ende der 1950er Jahre ausgehöhlt und obsolet. Die SPD dachte deshalb schon früh über eine Abschaffung nach. Aber seine sozialpolitische Funktion innerhalb der Bundesrepublik von der Erstaufnahme bis zur Arbeitsvermittlung und Weiterleitung erfüllte das Lager weiterhin mit großer Professionalität.
"Damit wurde das Aufnahmelager zu einem Teil des bundesdeutschen Migrationsregimes, auch wenn es dieses bis 1989/90 de facto offiziell [sic] nicht gab", befindet denn auch van Laak (385). Allerdings: Obwohl die oftmals qualvollen Debatten zum Einwanderungsland Deutschland gerade erst abklingen, ist die Behauptung falsch, dass die Bundesrepublik in früheren Jahrzehnten kein Migrationsregime besessen habe - dieses bezog sich nach 1945 aber allein auf Deutsche, die aus unterschiedlichen Gebieten zuzogen. Darunter fielen auch die Menschen aus der DDR. Ihre Aufnahme sah die Bundesrepublik stets als ihre Aufgabe an - auch bei ungünstigen Ausgangslagen. Schließlich würdigt auch van Laak das Notaufnahmegesetz von 1950, das positiv definierte, wem Aufnahme gewährt werden sollte. Und sie betont zu Recht die symbolische Bedeutung des Verfahrens, nämlich dass es in der Zeit der deutsch-deutschen Annäherung eine der wenigen westdeutschen Wiedervereinigungsbekundungen blieb, auch wenn - das beobachtet die Autorin richtig - in den Begründungen und Stellungnahmen die DDR immanent wie ein eigener Staat betrachtet werden musste.
Doch die Behauptung van Laaks, die im Lager vertretenen Institutionen und Organisationen, insbesondere die Parteien und Interessenvertretungen, hätten mehr ihr eigenes Wohl als das der Ankommenden verfolgt, geht zu weit. Natürlich verfolgten viele Beteiligte auch ihre eigenen Interessen - allen voran die Geheimdienste, die mitunter Flüchtlinge sogar dazu überredeten, zur Informationsbeschaffung in die DDR zurückzukehren, und sie damit großer Gefahr aussetzten. Dennoch verdienen die vielen redlichen Bemühungen von staatlicher und caritativer Seite, angemessen gewürdigt zu werden. Die These der Autorin widerspricht auch den Erfahrungen der Betroffenen. Sie haben durchweg blasse, aber eher positive Erinnerungen an den Lageraufenthalt. Nach der Dramatik von Flucht und Ausreise stellte die Zeit in Gießen keine Zäsur für sie dar. Die Neubürger schildern eine anstrengende, aber positiv besetzte Zeit von ihrer Ankunft im Lager bis zu ihrer beruflichen und sozialen Etablierung. Ein Einbruch erfolgte in vielen Fällen erst Jahre später, nämlich beim Eintritt in die Rente. Dass die Flüchtlinge und Ausgereisten hier empfindliche Kürzungen hinzunehmen haben, ist eine sozialpolitische Fehlleistung, die dringend der Korrektur bedarf.
Trotz kleinerer Monita: Einrichten im Übergang ist ein wichtiges Buch, weil es unsere Kenntnis der Aufnahmelager auf ein neues Niveau hebt.
Helge Heidemeyer