Bettina Effner: Der Westen als Alternative. DDR-Zuwanderer in der Bundesrepublik und in West-Berlin 1972 bis 1989/90 (= Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht), Berlin: Ch. Links Verlag 2020, 446 S., ISBN 978-3-96289-091-9, EUR 40,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jeannette van Laak: Einrichten im Übergang. Das Aufnahmelager Gießen (1946-1990), Frankfurt/M.: Campus 2017
Arne Hoffrichter: Verwaltung, Politik, Geheimdienste. Das Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm im Prozess der Zuwanderung aus SBZ und DDR 1945-1963, Göttingen: Wallstein 2018
Regina Wick: Die Mauer muss weg - Die DDR soll bleiben. Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1979 bis 1990, Stuttgart: W. Kohlhammer 2012
Lebensgeschichtliche Erzählungen, die die Sicht der Miterlebenden wiedergeben, haben in den vergangenen Jahrzehnten neben klassischen Quellen in der historischen Forschung breiten Raum eingenommen und prägen unser Geschichtsverständnis mittlerweile fundamental. Das hat einerseits die Methodik der meist in Form von Interviews eingefangenen Erzählungen über die Jahre verfeinert und professionalisiert. Andererseits werden auch die Grenzen ihrer Aussagekraft und methodische Probleme gerade älterer Interviews schärfer reflektiert. Insbesondere für Gedenkstätten gehört die Arbeit mit Erzählungen Betroffener seit langem zum Kern der Tätigkeit - und mithin auch das Generieren entsprechender Interviews. Dabei ist über die Jahre ein großer, aber auch extrem heterogener Schatz von Zeitzeugnissen entstanden, mit dem systematisches wissenschaftliches Arbeiten nicht gerade einfach ist.
Aus solchen disparaten Überlieferungen dennoch eine stringente und klar fokussierte Arbeit zu entwickeln, ist Bettina Effner mit ihrer Studie zur Aufnahme der DDR-Zuwanderer in der Bundesrepublik nach 1972 gelungen. Eine zentrale Quellenbasis der Arbeit sind drei unterschiedliche Konvolute von Befragungen der Zugewanderten. Die ersten Interviews entstanden im Rahmen eines soziologischen Forschungsprojektes, das sich Mitte der 1980er Jahre mit den damals wieder vermehrt in die Bundesrepublik übersiedelnden Deutschen aus der DDR befasste. Die zweite Gruppe bilden Interviews, die seit Ende der 1990er Jahre bis Mitte des Folgejahrzehnts in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde geführt wurden. Der dritte Teil besteht aus elaborierten Befragungen, die die Stiftung Berliner Mauer in den vergangen zehn Jahren durchgeführt hat. Aus ihnen destilliert die Autorin die Erfahrungen der Ankommenden und ihre Selbstzuschreibungen heraus, wobei sie die methodischen Probleme ihres Materials und die Grenzen seiner Aussagekraft stets offenlegt.
In Mittelpunkt der Arbeit stehen die Fremdheit der aus dem Ostteil des geteilten Landes Gekommenen und das Konzept ihrer Wiederbeheimatung im Westen. Dass mit einer Übersiedlung 25 Jahre nach der Gründung zweier deutscher Staaten und einer mindestens zehn Jahre andauernden vollkommenen Abschottung durch den Mauerbau ganz andere Schwierigkeiten verbunden waren als in den 1950er Jahren, liegt auf der Hand. Stellten damals vorwiegend materielle Probleme ein Hemmnis für die Eingliederung dar, so hatten sich nun die Lebenswelten deutlicher voneinander entfernt und die Kenntnisse über "das andere Deutschland", vor allem aus eigener Anschauung, waren deutlich zurückgegangen - trotz aller Bezogenheit aufeinander.
Der Wiederbeheimatung als Hauptfokus wird eine andere Sichtweise zur Seite gestellt, die der Replatzierung. Effner schwenkt den Blick von der individuellen Ebene der Betroffenen auf das staatliche Handeln und die öffentliche Wahrnehmung der Zuwanderung. Diese Perspektive ist insofern nicht nachrangig, als die behördliche und politische Replatzierung zusammen mit der gesellschaftlichen Disposition den Rahmen schafft, innerhalb dessen sich individuelle Beheimatung vollzieht. Diesen Rahmen konkretisiert sie an der Trias deutsche Staatsangehörigkeit (die aus Sicht der Bundesrepublik stets eine gesamtdeutsche blieb), spezifisches Aufnahmemodell (das Notaufnahmeverfahren für Flüchtlinge aus der DDR) und soziale Eingliederungsmaßnahmen, die den Zuziehenden gewährt wurden.
Und schließlich fragt die Studie durchgängig nach der Rolle West-Berlins in den beobachteten Prozessen: Welche Vorzüge und Nachteile bot die Halbstadt zuziehenden DDR-Bürgern? Wie nahmen die Ausgereisten - um diese handelte es sich in der Mehrzahl - diesen Ort wahr, welche Chancen und Risiken sahen und erlebten sie hier?
Ihren Untersuchungszeitraum unterteilt Effner in vier Phasen. Die erste, von 1972 bis 1984, war aufgrund niedriger Fallzahlen relativ ruhig: Der Anteil der Rentner unter den Zuziehenden lag in diesen Jahren bei über 50 Prozent. Nur die spektakuläre Ausreise von Künstlern und Intellektuellen im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung sticht hervor. An und unter ihnen entzündete sich eine symptomatische Diskussion: Einige Westdeutsche fragten, ob diese aufgrund ihrer unterschiedlichen Prägung wirklich noch Teil einer einheitlichen Nation waren, andere sahen in ihnen die Beglaubiger der nationalen Einheit. Diese Diskussion hatte ihre Entsprechung unter den übergesiedelten Künstlern selbst: Manche setzten ihre Karriere als Deutsche bewusst und bruchlos fort, andere betrachteten ihr Leben im Westen als Exil. Hier scheiden sich nicht junge und ältere, sondern bekannte und weniger bekannte Künstler. Letztere hatten vielfach das Gefühl, nicht einfach weitermachen zu können, da ihnen die Sprache geraubt sei. Es waren diejenigen, die den gerade entstehenden kleinen, aber festen oppositionellen Gruppen in der DDR angehörten und die die DDR selbst verändern wollten wie Jürgen Fuchs oder Roland Jahn, die ihre Situation als Exil wahrnahmen und ein Ankommen im Westen aktiv ablehnten. Sie wollten weiter "Querulanten" bleiben. Ähnlich wie sie beschrieben nicht-prominente Übersiedler in dieser Zeit starke Fremdheitserfahrungen. Interessanterweise bemühte diese Gruppe sich jedoch, dies zu verbergen, um nicht als fremd erkannt zu werden.
Die einmalige Übersiedlung von über 40.000 Menschen aus der DDR im Jahr 1984 bildete einen Testfall für 1989/90. Die Reaktionen, auf die diese Übersiedler stießen, oszillierten zwischen Hilfsbereitschaft und Konkurrenzneid, zwischen Distanz und Mitleid, zwischen Unverständnis und Überheblichkeit. Am Ende blieb, so das nüchterne Fazit der Autorin, nur Desinteresse. Kein gutes Vorzeichen für das, was sich fünf Jahre später ereignen sollte. Eine Verschiebung innerhalb des politischen Spektrums zeigt Effners Analyse der politischen Kräfte, die sich für die Kommenden einsetzten: die Unionsparteien und die Grünen. Das unterstreicht, dass das alte Dogma der nationalen Einheit nicht mehr Voraussetzung war, um sich für die Belange der Ausgereisten aus der DDR zu engagieren: Die Grünen forderten mehrheitlich die Anerkennung zweier deutscher Staaten und der DDR-Staatsbürgerschaft und befürworteten dennoch Eingliederungshilfen, weil sie Parallelen herstellten zur Zuwanderung von sogenannten Gastarbeitern und Asylsuchenden.
Für die zweite Hälfte der 1980er Jahre gelingt es Effner, das Konzept der Beheimatung an Fallbeispielen dicht und lebendig aufzufächern. So werden Erfahrungen der DDR-Übersiedler bei ihrer Ankunft greifbar, aber auch Strategien und Prozesse im Hinblick darauf, neue Wurzeln zu schlagen. Die Angekommenen waren vielfach überfordert, insbesondere in den Bereichen Konsum oder Verwaltung. Sie fühlten sich fremd und litten unter der Trennung von ihren Familien und Freunden. Einigen fiel es schwer, eine politische Heimat zu finden: Hochpolitisiert und sich eher links einordnend, fühlten sie sich von der westdeutschen Linken unverstanden. All das, was Beheimatung ausmacht, war nicht erfüllt und hinterließ ein Vakuum, das nur schwer auszufüllen war. Umso wichtiger wurden Bezugspersonen und andere Flüchtlinge, die eine Richtung weisen konnten. Viele setzten dabei auch auf den Ort: Westberlin mit seiner Ehemaligenszene rund um die Bergmannstraße versprach so etwas wie Nestwärme.
Schließlich die Achterbahn der Jahre 1989/90, in der die Massenflucht jegliche Gewissheit raubte. Die mediale und öffentliche Euphorie des Herbstes 1989 fiel bis zum Februar 1990 in sich zusammen: Die Ankommenden wurden nun vorwiegend als Konkurrenz um Arbeit und Wohnungen wahrgenommen, Leistungen für sie in Frage gestellt. Unter der Wortführung von Oskar Lafontaine und dem "Spiegel" drängten sich sozialpolitische Fragen in den Mittelpunkt. Politische Argumente trugen nicht mehr, weil die DDR ja nicht mehr die alte Diktatur war. Dieser Position stellten sich, so Effner, schließlich nur noch Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble entgegen, für die die anhaltende Massenzuwanderung eine innen- und außenpolitische Rechtfertigung darstellte, um die nationale Einheit rasch zu erreichen. Das ist nicht von der Hand zu weisen, aber die Autorin betont den instrumentellen Charakter dieser Position doch recht einseitig. Am Ende gingen auch die beiden CDU-Politiker den Kompromiss ein, dass alle Regelungen zugunsten der DDR-Zuwandernden nicht erst mit der deutschen Einheit, sondern schon am 30. Juni 1990 mit dem Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion ausliefen. Eine 40-jährige Sondergesetzgebung fand ihren Abschluss.
Die Erzählung schaut jeweils auf politisch-gesellschaftliche Gegebenheiten sowie auf individuelle Beheimatungserfahrungen und Integrationsprozesse der Ost-West-Übersiedler. Die Linien werden jedoch nicht parallel gezogen: In den Kapiteln, die sich über mehrere Jahre erstrecken, steht die Beheimatung ganz im Vordergrund - eine in dieser Vertiefung erhellende Perspektive. Jene, die sich mit 1984 bzw. 1989/90 befassen, konzentrieren sich auf den politischen und öffentlichen Diskurs. Eingebettet in die bekannte Dramaturgie der letzten Monate der DDR schildert die Autorin dabei zum ersten Mal die Diskussion um die Abschaffung des Notaufnahmegesetzes.
Mustergültig sind die Teile, die die Beheimatung nachzeichnen - gerade wenn sie an individuellen Erfahrungen festgemacht sind. Dabei verliert sich Effner nicht im Einzelfall, sondern behält das große Ganze im Auge - auch im stärksten dritten Teil. Das darin entfaltete Thema, die Bedeutung West-Berlins für die Übersiedler, ihre Szene, ihre Cafés und Kneipen, hat man so bislang nur in der Literatur gefunden, etwa in Katja Lange-Müllers "Böse Schafe". [1]
Effner hat auf breiter Grundlage ihren Gegenstand gründlich erfasst. Dass sie nicht mit spektakulären Neuigkeiten aufwarten kann, schmälert nicht den Erkenntniswert: Sie belegt "gefühltes Wissen" und beobachtet genau. Und die Studie verdeutlicht, dass die Frage der Zuwanderung aus der DDR in die Bundesrepublik anschlussfähig ist an Diskussionen um andere, auch aktuelle Formen von Zuwanderung - so, wie die Grünen das Thema in den 1980er Jahren in einen neuen Kontext stellten. An eine andere Debatte anknüpfend könnte man in diesem Sinne fragen: Wenn schon die Ostdeutschen das Gefühl haben, nicht dazuzugehören, wie geht es dann erst allen anderen Zuwandernden?
Anmerkung:
[1] Katja Lange-Müller: Böse Schafe, Köln 2007.
Helge Heidemeyer