Rezension über:

Hans-Jürgen Becker: Konrad von Gelnhausen. Die kirchenpolitischen Schriften (= Konziliengeschichte. Reihe B: Untersuchungen; 17), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 404 S., 2 Tabl., ISBN 978-3-506-78866-5, EUR 99,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Heribert Müller
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Heribert Müller: Rezension von: Hans-Jürgen Becker: Konrad von Gelnhausen. Die kirchenpolitischen Schriften, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15.04.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/04/31376.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Hans-Jürgen Becker: Konrad von Gelnhausen

Textgröße: A A A

Der Autor dieses Buches hat sich über die zivilrechtliche Einbindung des Individuums bei Kleist wie über die Architektur von Justizpalästen und Mozarts Oper 'La clemenza di Tito' ebenso verbreitet wie über Neumünstersche Kirchenspielbräuche im 'Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte', zu dessen beiden Auflagen er eine Vielzahl von Artikeln beitrug und noch immer beisteuert. 2009 umfasste seine Publikationsliste in der ihm dedizierten Festschrift 20 Seiten, auf fast 800 kam ein 2014 erschienener Band mit ausgewählten Aufsätzen, und nach wie vor legt der fast achtzigjährige frühere Kölner und Regensburger Rechtshistoriker Veröffentlichungen in steter und dichter Folge vor. Also ein Schnell- und Vielschreiber, der sich über alles Mögliche auslässt? Sicher, er verfügt, wie auch der anzuzeigende Band belegt, über eine rasche Feder (d. h. er weiß den Computer einzusetzen), doch die Säulen seines Œuvre heißen Fleiß und Disziplin; hinzu kommt die Gabe klarer und konziser Darstellung. Vor allem aber ist er jenseits aller Themenvielfalt seit langem auf einen fest umrissenen Forschungsschwerpunkt fokussiert, der ihm über die Rechtsgeschichte hinaus auch im Kreis der Allgemeinhistoriker Beachtung und Reputation eingetragen hat: Aufgrund der Beschäftigung mit kanonistischen Autoren fand der Erler-Schüler zu seinem Habilitationsthema, der Appellation vom Papst an ein allgemeines Konzil in Spätmittelalter und früher Neuzeit - seine hierzu 1988 vorgelegte Studie darf als Referenzwerk gelten. [1]

Dabei widmete er, auch in weiteren Veröffentlichungen, selbstredend dem Zeitalter des Großen Schismas und der Reformkonzilien seine Aufmerksamkeit. In diesen Rahmen sind nun die beiden aus Hessen stammenden und an der Pariser Universität wirkenden Konrad von Gelnhausen und Heinrich von Langenstein zu situieren, denen in den Anfängen der Kirchenspaltung bekanntlich eine führende Rolle bei der Ausformung des Konziliarismus zufiel. Allein im Gegensatz zu Langenstein wurde Gelnhausen bislang keine heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende monographische Aufarbeitung zuteil. Innere Logik, indes wohl auch der Zufall in Form einer Einladung zum Vortrag am Geburtsort Konrads, ließen den Autor nach der Publikation einer erweiterten Version dieses Vortrags 2014/15 [2] innerhalb nur dreier Jahre den hier zu besprechenden umfänglichen Band vorlegen, in dem sich alle überlieferten Schriften Konrads samt den diese begleitenden Briefen ediert, kommentiert und ebenso umfassend wie prägnant, d. h. in einer auch für mit der Materie weniger Vertraute stets verständlichen Weise, analysiert finden. Obendrein werden sie in den Kontext der vielen Traktate aus dem ersten Jahrzehnt des Schismas gestellt (29-50) [3]. Der Analyse voran geht eine biographische Skizze (14-29), die sich u. a. auf jüngere, aus der Beschäftigung mit Gelnhausens Predigten gewonnene Erkenntnisse stützen kann, welche Dorothea Walz 1995 in ihrer leider ungedruckt gebliebenen Heidelberger Habilitationsschrift, danach aber auch in mehreren publizierten Aufsätzen präsentiert hat [4].

Gleich Langenstein will Gelnhausen natürlich weniger wegen seiner Herkunft denn als ein in die internationale Gelehrtenkommunität eingebundener und in deren Zentrum Paris tätiger Kanonist und Theologe wahrgenommen werden, der zudem seine erste Schrift, die Epistola brevis, 1379 auf Aufforderung des französischen Königs Karl V. hin verfasste und auch sein Hauptwerk, die Epistola concordiae, 1380 vornehmlich an ihn richtete. Mit diesem Traktat bzw. Rechtsgutachten über die Notwendigkeit eines zur Überwindung des 1378 ausgebrochenen Schismas von Monarchen und Fürsten einzuberufenden Generalkonzils (das für Gelnhausen wohlgemerkt nichts an der Superiorität des Papstes im 'Normalfall' änderte) wandte er sich jedoch zudem an den römisch-deutschen und böhmischen König Wenzel und den ihm seit frühen Jahren verbundenen pfälzischen Kurfürsten Ruprecht I. wie auch an Herzog Wenzel von Luxemburg und Brabant und an einen nicht namentlich bezeichneten deutschen Prälaten, bei dem es sich um den Bischof von Worms handeln könnte, wo Konrad seit 1378 die Dompropstei innehatte. Die beiden letztgenannten Schreiben wie auch die Apostropha, ein die Epistola concordiae beschließender Appell an Karl V., für die via concilii Sorge zu tragen, sind hier erstmals ediert ebenso wie sich auf Schisma und Konzil beziehende Auszüge aus seiner am 30.VIII.1380 vor einer bischöflichen Synode in Worms gehaltenen Predigt. Ansonsten greift Becker auf vorhandene Editionen zurück, vor allem auf die zuverlässige, aber nur noch schwer greifbare Ausgabe der Epistola concordiae von Franz P. Bliemetzrieder - sie liegt allerdings in einem Nachdruck von 1967 vor -, wobei er die Handschriftenbasis wesentlich verbreitern konnte (was sich indes auf die Edition selbst kaum auswirkte), sodann die knappe Kommentierung Bliemetzrieders erweiterte und durch Sperrdruck jene Passagen hervorhob, welche Langenstein in seiner Epistola concilii pacis 1381 mehr oder minder frei übernahm - wörtlich sogar tat er das bei den für die Begründung der Unumgänglichkeit einer allgemeinen Synode zentralen Punkten der epikeia, urgens necessitas und evidens utilitas publica (vgl. 93-106, bes. 105).

In einem eigenen Kapitel 'Nachwirkung der Epistola concordiae' thematisiert Becker über Langenstein hinaus die Reich- und Tragweite der Ideen Gelnhausens (135-148), die zwar bei den Großen seiner Zeit ohne unmittelbare Wirkung blieben - früh schon erkannte er dies selbst, wie besagter Brief an den deutschen Prälaten belegt -, doch nicht in Vergessenheit gerieten, wofür etwa die Kölner Universität oder Jean Gerson stehen. Und schließlich sollten die Konzilien von Pisa und Konstanz ja schon durch ihre Existenz und insbesondere durch das Dekret Haec sancta des Constantiense Gelnhausens Forderungen Wirklichkeit werden lassen.

Ein besonderes Verdienst hat Becker sich mit seiner Übersetzung sämtlicher Texte erworben - ohne solche, das lehrt die Erfahrung des universitären Alltags, lässt sich heute praktisch kein Mittelalter-Seminar mehr bestreiten. Und da war zweifellos auch die Entscheidung richtig, weniger eine wörtliche Übersetzung als eine leserfreundliche freiere und eher parataktische Übertragung zu bieten zumal angesichts der Tendenz Gelnhausens zu kompliziert verschachtelten Satzkonstruktionen - Becker spricht von 'barockem' Stil.

Allerdings sollte dies nicht zum Wegfall ganzer Sätze (z. B. 287: Ipso rege ... Amen), Wendungen (z. B. 349: utinam et merito und qui scit) und einzelner, aber wichtiger Worte (z. B. 347: quocumque) oder auch zu unterschiedlicher Übersetzung desselben Texts an verschiedenen Stellen (133 und - korrekt - 328) führen. Dennoch trifft Becker durchgängig den Kern des Gemeinten, wenn man auch über Nuancen streiten mag (z. B. 296 f.: levi opusculo: wohl weniger ein schmales als leichtes, d. h. leichtgewichtiges, unbedeutendes Werkchen; 320/323: pacem ... prosequitur: Frieden verfolgt, erstrebt statt bewahrt; 306 f.: mundi tenet monarchiam dürfte nicht bloß auf Wenzels römisch-deutsche Königsherrschaft, sondern auch auf die damit verbundene Anwartschaft auf das Kaisertum zielen). Störend sind auch die überaus zahlreichen Tipp- und Flüchtigkeitsfehler (allein 311/313: lamentabis, potententie, [de] manus, Pertri, clamdestrius [?], apperebit), die auch schon die Darstellung durchziehen, um im Quellen- und Literaturverzeichnis - wobei etliche Quellen unter Literatur begegnen - tolerables Maß zu überschreiten, so dass Einiges, selbst auf den Vorwurf der Beckmesserei hin, exemplarisch erwähnt sei, um die Dimension der Errata zumindest in Ansätzen zu belegen: Viele der zitierten Titel weisen bis zu drei Fehler auf (z. B. Brandmüller, Sacrosancta synodus; Frenken, Gelehrte), wiederholt genannte Sammelbände werden immer wieder falsch und obendrein variierend falsch aufgeführt - so begegnet etwa ein 1980 erschienener Band mit den Akten einer Tagung in Avignon in gleich fünf Versionen (Bresc, Diener, Fois, Genèse, Pascoe). Ähnlich erging es dem von Helmrath und mir besorgten Reichenauer 'Vorträge und Forschungen'-Band über die Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel (Frenken, Girgensohn, Müller-Helmrath). Wiederholt finden sich dieselben Titel zweimal hintereinander und dabei teilweise ebenfalls mit unterschiedlichen Fehlern zitiert (Miethke, Přerovský, Prodi, Thomas), bei anderen sind private Notizen des Autors zu ihnen mit in den Druck gelangt (so zu Schaede, Schroeder). Willkürlich fällt die (Nicht)Verwendung von Abkürzungen wie auch die (Nicht)Nennung von Reihen aus, die alphabetische Anordnung wird wiederholt missachtet, ein Aufsatz Miethkes erhält Girgensohn zum Verfasser etc. etc. Man mag mir nachsehen, dass ich aufgrund solcher Resultate wohlgemerkt stichprobenhafter Überprüfung eine Kontrolle der sonstigen Anhänge, insbesondere des Registers, nicht mehr vorgenommen habe.

Und dennoch: Becker hat ein verdienstliches Werk vorgelegt, denn nach den Arbeiten Kreuzers zu Langenstein [5] verfügen wir nunmehr auch über eine Monographie neuen Stands zu Gelnhausens Leben und Werk, in der aber, anders als in Langensteins Fall, dessen Schriften nicht nur analysiert, sondern auch ediert werden: praktisch ein Gelnhausen-Handbuch aus einem Guss, zum Nutzen für Forschung wie universitäre Lehre. Indes legt sich darüber der Schatten einer Unzahl von Versehen und Flüchtigkeiten; offenbar ging hier in der Tat Schnelligkeit vor Sorgfalt. Zudem fällt auf, dass im Vorwort niemandem für Durchsicht des Manuskripts oder kritische Diskussion darüber gedankt wird. Wurde hier ein Alterswerk zwar in Freiheit, doch in nicht unbedingt förderlicher Einsamkeit zu Papier gebracht?


Anmerkungen:

[1] Hans-Jürgen Becker: Die Appellation vom Papst an ein allgemeines Konzil. Historische Entwicklung und kanonistische Diskussion im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht; 17), Köln / Wien 1988.

[2] Hans-Jürgen Becker: Konrad von Gelnhausen und das Große Abendländische Schisma, in: Gelnhäuser Geschichtsblätter 2014/15, 5-53.

[3] Vgl. dazu jüngst die - von Becker noch berücksichtigte - Arbeit von Bénédicte Sère: Les débats d'opinion à l'heure du grand schisme. Ecclésiologie et politique (= Ecclesia militans; 6) Paris 2016; s. auch Francia recensio 2017/3 (DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.3.41528).

[4] Eine gute Zusammenfassung bietet Dorothea Walz in ihrer Studie: Konrad von Gelnhausen: Leben und Predigt, in: Fritz Peter Knapp u. a. (Hgg.): Schriften im Umkreis mitteleuropäischer Universitäten um 1400 (= Education and Society in the Middle Ages and Renaissance; 20), Leiden / Boston 2004, 20-39.

[5] Georg Kreuzer: Heinrich von Langenstein. Studien zur Biographie und zu den Schismatraktaten unter besonderer Berücksichtigung der Epistola pacis und der Epistola concilii pacis (= Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte; N. F. 6) Paderborn 1987; vgl. ders., in: AHC 10 (1978) 131-144 sowie in: Oliver Wünsch / Thomas Zotz (Hgg.): Scientia veritatis. Festschrift Hubert Mordek, Ostfildern 2004, 401-419.

Heribert Müller