Uwe Fleckner / Uwe M. Schneede (Hgg.): Bürgerliche Avantgarde - 200 Jahre Kunst in Hamburg, Ostfildern: Hatje Cantz 2017, 288 S., ISBN 978-3-7757-4374-7, EUR 35,00
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Im vergangenen Jahr beging der Hamburger Kunstverein das 200. Jubiläum seiner 1817 erfolgten Gründung. Anlässlich dieses historischen Datums veranstaltete der Kunstverein, der älteste in Deutschland überhaupt, vom 28. Januar bis 2. April 2017 die Sonderausstellung "The History Show" [1] und veröffentlichte im Hatje Cantz Verlag den von Uwe Fleckner und Uwe M. Schneede herausgegebenen Sammelband "Bürgerliche Avantgarde - 200 Jahre Kunst in Hamburg". Das Forschungs- und Ausstellungsprojekt wurde in Kooperation mit dem Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg unter der Leitung von Uwe Fleckner realisiert und basiert somit auf dem neuesten Forschungsstand. Sollte sich der unentschlossene Leser fragen, ob es noch immer Neues und Ungewohntes zu entdecken gibt, dann wird er bereits beim Aufblättern des Inhaltsverzeichnisses, das in weiß auf grellem Neon-Orange gestaltet ist, erkennen: Auch nach 200 Jahren ist hier nichts verstaubt.
Das Jubiläum gibt Anlass zu Rückschau, Bestandsaufnahme und Ausblick und so folgen dem gemeinsamen Vorwort von Harald Falckenberg, Vereinsvorsitzender und Hamburger Sammler, und der amtierenden Direktorin Bettina Steinbrügge elf Aufsätze, die von der wechselvollen Geschichte von der Gründung bis in die Gegenwart berichten. Als Autoren konnten sachkundige Kolleginnen und Kollegen gewonnen werden, deren berufliche Lebenswege zumeist auf irgendeine Weise mit Hamburg und seinem Kunstverein verknüpft sind und die im Anhang des Buchs mit kurzen Biografien (282-283) vorgestellt werden. Den Auftakt gibt Uwe M. Schneede, der den Verein zwischen 1973 und 1984 geleitet hat, mit dem Beitrag "Eine Öffentlichkeit für die Kunst. Die Anfänge des Kunstvereins in Hamburg (und anderswo)" (8-35), in dem er das Phänomen der vom Bürgertum getragenen Kunstvereinsgründungen in Deutschland während des 19. Jahrhunderts vorstellt und auf die spezifische Situation der Hansestadt eingeht.
Die weiteren Beiträge legen in einer chronologischen Erzählweise sinnvolle Schwerpunkte: Der Einfluss des Kunstvereins auf die Gründung der Hamburger Kunsthalle, Ausstellungspraxis um die Jahrhundertwende 1900, Jahresgaben und der "Einzug der Moderne" in den 1920er-Jahren. Auch die zahlreichen Ortswechsel, die seit der Gründung immer wieder notwendig wurden, finden Erwähnung, wobei "Karl Schneiders Kunstvereinsgebäude von 1930" (126-143), das Frank Schmitz als "Schlüsselwerk des modernen Ausstellungsbaus" (126) beschreibt, besondere Beachtung findet. Uwe Fleckner hat sich der Zeit zwischen 1930 und 1945 (144-181) gewidmet, wobei er den ersten 'Direktor' Hildebrand Gurlitt und die Geschichte des Kunstvereins während der Zeit des Nationalsozialismus in den Blick nimmt. Julia Friedrich beleuchtet den Neuanfang 1945 und die Jahre bis 1971 (182-205). Hier übernimmt erneut Schneede, der von der "Ausweitung der Kunstzone" (206-237) in den 1970er- und 1980er-Jahren berichtet und dabei, wie er selbst schreibt, "kein unabhängig auf die Zeitläufe schauender Historiker" (236) sein kann, sondern aus der möglichst objektiven Sicht eines ehemaligen Akteurs berichtet. Die Kunstvereinsarbeit von 1980 bis zur Jahrtausendwende (238-253) betrachtet Ute Meta Bauer, die in den 1980er-Jahren als studentische Mitarbeiterin am Kunstverein tätig war, in ihrem Aufsatz. Bettina Steinbrügge schließt mit einer Charakterisierung der gegenwärtigen Situation sowie einem Ausblick auf die Zukunft des Hamburger Kunstvereins bzw. von Kunstvereinen im Allgemeinen (254-269), die sich ständig verändernden Herausforderungen und einer kritischen Neubefragung stellen müssen, um sich ihrer Daseinsberechtigung zu vergewissern - neue Vermittlungsformate nicht ausgeschlossen. Ein tabellarischer Überblick der Vereinsgeschichte (270-281) rundet den Band nicht nur ab, sondern veranschaulicht, wie oft die Hamburger immer wieder eine Vorreiterfunktion eingenommen und Neues gewagt haben, indem sie sich der nicht-kanonisierten Kunst zuwandten und sie mutig präsentierten. Wie früh einige Künstlerinnen und Künstler hier bereits das (inter-)nationale Ausstellungsparkett betreten haben, die inzwischen zu den Arrivierten des Kunstmarkts zählen, beweist das Beispiel Ólafur Elíasson: Diesem richtete der Hamburger Kunstverein im Frühjahr 1995 - dem Jahr seines Abschlusses an der Kunstakademie Kopenhagen - bereits eine Einzelausstellung aus.
Darüber hinaus profitiert der Band von reichem, aber stets präzise ausgewähltem Abbildungsmaterial, das nicht nur aus dem Vereinsarchiv, sondern auch aus zahlreichen anderen Archiven und Sammlungen zusammengetragen wurde. Gestalterisch - wenn sich die Augen erst einmal an das grelle Orange gewöhnt haben - macht die Publikation Lust darauf, in die Vereinsgeschichte einzutauchen. Einziger Wermutstropfen, aber für einen Sammelband leider nicht ungewöhnlich: Ein Register hätte die gezielte Personen- oder Stichwortsuche ermöglicht, die Verknüpfung der einzelnen Beiträge erhöht und die weitere wissenschaftliche Nutzung verbessert.
Der hervorragend recherchierte Jubiläumsband verdeutlicht, wie sich der privat von den Mitgliedern getragene und nur zum Teil öffentlich mitfinanzierte Verein immer wieder an neue gesellschaftliche und politische Bedingungen und Anforderungen anpassen musste, um Zeiten des Umbruchs und der Veränderung zu meistern. Auch wenn das Hamburger Beispiel durch spezifische Charakteristika der Hansestadt und des dortigen Kunstmarkts gekennzeichnet ist, bedeutet die Publikation auch ein zukünftiges Standardwerk in der Beschäftigung mit Kunstvereinen in Deutschland überhaupt.
Anmerkung:
[1] http://www.kunstverein.de/ausstellungen/archiv/2010-2019/2017/20170127_1_TheHistoryShow.php (zuletzt gesehen am 16.3.2018).
Gloria Köpnick