Rezension über:

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor, München: C.H.Beck 2018, 664 S., 11 Kt., 5 Tbl., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-71969-1, EUR 29,95
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Rezension von:
Gerd Krumeich
Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Gerd Krumeich: Rezension von: Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor, München: C.H.Beck 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/06/31433.html


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Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

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Holger Afflerbachs neues Buch hat einen ungewöhnlichen und provozierenden Titel: "Auf Messers Schneide" heißt doch, dass die Niederlage Deutschlands nicht besiegelt war, nachdem die US-Soldaten ab dem Juli 1918 zu Hundertausenden auf den Schlachtfeldern erschienen. In Wirklichkeit ist die These nicht ganz so explizit und wird wohl - wenn ich nichts überlesen habe - auf Seite 512 zum ersten und einzigen Mal genauer erläutert: "Der Erste Weltkrieg wurde auch deswegen so erbittert und ausdauernd geführt, weil er sehr lange 'auf Messer Schneide' stand und auch anders hätte ausgehen können." Anders? Afflerbach beeilt sich klarzulegen, dass er nicht der Meinung ist, "das Deutsche Reich hätte den Krieg militärisch gewinnen können". Was aber nach Afflerbach wirklich möglich war und blieb, wäre ein Remis-Frieden gewesen. Denn: "Es war für Deutschland unmöglich, den Krieg zu gewinnen; es bedurfte aber ganz gravierender Fehler, ihn zu verlieren." (513).

Das Buch ist im Grunde eine von einem bewährten Experten geschriebene, militärische Gesamtgeschichte des Ersten Weltkrieges, mit einigen Einschüben betreffend die deutsche Innenpolitik, Wirtschaft und Gesellschaft im Kriege. Als Biograph des Generalstabschefs Falkenhayn und als Herausgeber einer sehr wichtigen Quellensammlung über Militärs im Umkreis des Kaisers hat Afflerbach wie kaum sonst jemand die Fähigkeit, die Gesellschaft der hohen Militärs während des Krieges zu durchleuchten. Das zeigt sich schon bei Beginn, als es um die Entscheidungen von 1914, den Schlieffenplan und die militärischen Aktionen zu Kriegsbeginn geht. Geschickt zeigt er die Grundüberzeugungen und Stereotypen der deutschen Militärs, den Krieg wie ein "Räderwerk" planen und durchführen zu können.

Grundsolide und informativ ist auch, was er über die Zusammensetzung und Ausrüstung der deutschen Armee immer wieder und quasi nebenbei zu wissen gibt. Man erhält einen sehr guten Eindruck von der ungeheuren "Maschine", die sich 1914 in Bewegung setzte. Lesenswert ist beispielsweise, wie Afflerbach die "Grenzschlachten" zwischen Deutschland und Frankreich im Herbst 1914 präsentiert. Sehr gut wird der Siegesüberschwang der Deutschen geschildert, der zur Katastrophe an der Marne führte. Man glaubte wirklich, die Franzosen "geworfen" zu haben und wollte sie nun wie fliehende Hasen "verfolgen". Allerdings ergibt sich bei der Schilderung der Marne-Schlacht dann die Schwierigkeit zu entscheiden, ob die berühmte Lücke zwischen den Armeen von Bülow und von Kluck zustande kam, weil die einen noch schneller hinter den Franzosen herrennen wollten als die anderen, oder, wie in der Fachliteratur sonst stark argumentiert wird, die Soldaten inzwischen so erschöpft waren, dass sie eine "Verfolgung" einfach nicht mehr durchführen konnten. Afflerbach kennt beide Seiten des Problems, diskutiert sie aber nicht abschließend. Leider wird die große Darstellung von Holger Herwig (deutsche Übersetzung 2014) zwar in einer abschließenden Fußnote vage erwähnt, nicht aber diskutiert. Das hätte sich gelohnt!

Afflerbach ist der Auffassung, dass die Marne-Schlacht keine Entscheidungsschlacht gewesen ist. Hätten die Deutschen sie gewonnen, dann "hätten sich die Kämpfe trotzdem festgerannt" (71). Ja, das mag sein, aber wer kann das entscheiden? Schon in diesem Kapitel ist viel zu stark von Möglichkeiten, Fehlern, Alternativen im Verhalten die Rede, die hier wie auch sonst auf viel zu viele Vorschläge des Verfassers an die Generäle von damals hinauslaufen. Doch leider können diese darauf nicht mehr antworten, und überdies gehört solche Kritik quasi mit der Generalstabskarte in der Hand heute nicht mehr zu den eigentlichen Aufgaben der Kriegsgeschichte. Aber die Marne-Schlacht hätte selbstverständlich mit einem deutschen Sieg enden können und ob in diesem Fall die Briten willens gewesen wären, sich weiterhin und immer stärker an der Westfront zu engagieren, kann füglich bezweifelt werden. Und wie sich nach einer Marne-Niederlage die Stimmung und Kampfbereitschaft in Frankreich entwickelt hätten - wer vermag das auch nur noch in Erwägung zu ziehen? Es bleibt, dass für die Zeitgenossen die Marne sicherlich eine Art Entscheidungsschlacht war und blieb.

Über das falsche Besser-Wissen im Nachhinein hat Afflerbach selber hübsche Formulierungen gebraucht (etwa Seite 91), aber leider findet sich genau das in seinem Buch zuhauf. Solche grundsätzliche Kritik soll nicht verbergen, dass auch ich in diesem Buch unendlich viel Neues gelernt habe. So ist beispielsweise über "Tannenberg" (73ff.) kaum bündiger und kompletter aus den Blickwinkeln aller beteiligten Mächte zu schreiben.

Ein Blick auf das "Verdun"-Kapitel: Afflerbach hat vor vielen Jahren den Nachweis geführt, dass die "Weihnachtsdenkschrift" des Generalstabschefs Erich von Falkenhayn, derzufolge man nicht Verdun einnehmen, sondern die Franzosen dort "ausbluten" wollte, eine nachträgliche Fälschung gewesen sein muss. Gleichwohl kommt er in diesem Verdun-Kapitel wieder darauf zurück mit der steilen These, dass Falkenhayn sehr wohl die Vorstellung gehabt habe, die Franzosen hier ausbluten zu können, weil er wusste, dass sie diese Festung um jeden Preis verteidigen würden. (195). Nichts aber ist in Wirklichkeit weniger sicher als diese Annahme Falkenhayns. Schließlich hatten die Franzosen das Fort Douaumont 1915 vollständig seiner Kanonen entblößt. Und im Vorfeld des deutschen Angriffs waren die französischen Militärs mehrheitlich der Auffassung, dass eine Aufgabe der Festung nicht sonderlich schlimm wäre. Dass es dann trotzdem zu diesem Ringen um jeden Zentimeter kam, mit den ca. 300.000 Toten auf beiden Seiten, hat andere und vor allem politisch-moralische Gründe. Auch wenn Verdun sehr komplett geschildert wird, so wäre es sicherlich zwingend gewesen, sich mit der neuen und z. T. sehr gegenläufigen Forschungsliteratur auseinanderzusetzen, anstatt die Diskussion in eine einzige lange Fußnote zu verbannen.

Auch die Somme-Schlacht wird sehr "dicht" beschrieben, vor allem weil sie im Zusammenhang mit der Entwicklung im Osten, der Brussilow-Offensive, gesehen wird. Hier zeigt sich der Vorteil einer Geschichtserzählung, die auf einer profunden Kenntnis aller Fronten dieses Krieges beruht und die Ereignisse im Osten, im Süd-Osten und im Westen miteinander zu verzahnen imstande ist. Im Verlauf der Schilderung der "Kriegsaussichten im Herbst 1916" (242ff.) wird dann gefragt, ob etwa eine auf einen Verhandlungsfrieden abzielende Strategie (wie sie Falkenhayn schon Ende 1914 vorgeschlagen hatte) hätte Erfolg haben können. Afflerbach zeigt (244ff.), dass die alliierte Seite auch Ende 1916 in keiner Weise an einen Verhandlungsfrieden dachte. Dem absoluten französischen Durchhaltewillen räumt er dabei sehr großes Gewicht ein. Wie sich allerdings diese - sicherlich zutreffende - Analyse zu der "Auf Messers Schneide"-These verhält, dass im Winter 1916/17 "ein Remis möglich gewesen wäre" (514) habe ich nicht verstanden.

Sehr umfangreich und militärisch detailliert ist die Beschreibung der Ereignisse von 1918, der "Michael"-Offensive vom März und ihrer Folgeschlachten, dann der Einbruch der Deutschen ab dem 18. Juli, dem "schwarzen Tag" des 8. August usw. Eine insgesamt sehr "farbige" Darstellung, wo im Unterschied zu den meisten anderen der Blick wieder konsequent auch nach Osten und Südosten gerichtet ist. Es wird sogar überlegt, ob nicht etwa auch österreichische Kräfte an der Westfront hätten eingesetzt werden können. Afflerbachs Konsequenz aus der Analyse der technischen Überlegenheit der Alliierten (LKWs, Flugzeuge und Panzer, wobei er letztere ziemlich negativ beurteilt (432ff.)), ist, dass die Deutschen sich auf die Defensive hätten zurückziehen müssen. Aber das sei nicht möglich gewesen, weil man für die Defensive Zeit braucht, und Zeit hatten die Deutschen nicht mehr.

Afflerbach zeigt, wie schon viele andere Historiker vor ihm, dass das Ungleichgewicht zwischen den Kräften der Alliierten und der Deutschen bis zum Kriegsschluss dramatisch gewachsen war. Was allerdings auch in diesem Buch nicht beantwortet wird, ist die Frage, ob sich die deutschen (Rest)-Armeen u. U. noch so lange hätten "im Feindesland" halten können, bis ein erträglicher Waffenstillstand gekommen wäre - wenn die Revolution nicht gekommen wäre. "Auf Messers Schneide" im Sinne von Holger Afflerbach stand der Krieg Ende 1918 nicht mehr. Jetzt bliebe noch zu klären, warum die Generale von damals seinen klugen Vorschlägen von heute nicht gefolgt sind.

Gerd Krumeich