Paul Miller-Melamed: Misfire. The Sarajevo Assassination and the Winding Road to World War I, Oxford: Oxford University Press 2022, XIV + 280 S., ISBN 978-0-19-533104-2, GBP 26,49
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Dick van Galen Last / Ralf Futselaar: Black Shame. African Soldiers in Europe, 1914-1922, London: Bloomsbury 2015
Michael Hochedlinger (Bearb.): "Erdäpfelvorräte waren damals wichtiger als Akten". Die Amtschronik des Generals Maximilian Ritter von Hoen, Direktor des Kriegsarchivs, Innsbruck: StudienVerlag 2015
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Reinhard Nachtigal: Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914-1918. Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
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Im Frühsommer 2014 war Sarajevo Schauplatz wissenschaftlicher Tagungen, politischer Treffen und kultureller Veranstaltungen zum Gedenken an das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand vor hundert Jahren. Das Museum an der Straßenecke, an der Gavrilo Princip den Erzherzog und dessen Frau Sophie von Hohenberg erschossen hatte, warb mit dem plakativen Slogan "The Street Corner That Started the 20th Century" um die Aufmerksamkeit des internationalen Publikums (192). Die Eigendynamik von "Jubiläen" und die "Eventisierung" von Erinnerungskultur ließen sich 2014 nicht nur in der Hauptstadt Bosniens beobachten. Sarajevo kam aber als Schauplatz des Attentats eine Sonderrolle beim Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs zu, denn die Ermordung Franz Ferdinands hatte sich seit 1914 längst als Ausgangspunkt für wissenschaftliche wie populäre Darstellungen der Julikrise etabliert. Der Mordanschlag vom 28. Juni 1914 fungiert dann sinnbildlich als Startschuss der Konflikteskalation.
Paul Miller-Melamed stellt demgegenüber seine Auseinandersetzung mit dem Attentat und dem Kriegsausbruch unter den Titel "Misfire", also "Fehlzündung" oder "Fehlschlag". Es geht ihm um eine Entmythisierung des Attentats, und zwar in zweifacher Hinsicht: Er demontiert zum einen sorgfältig die vielen spekulativen Deutungen der Vorgeschichte und des Ablaufs des Mordanschlags, die sich in der historisch interessierten Öffentlichkeit, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur der letzten einhundert Jahre finden. Zum anderen aber widerspricht er der Überhöhung des Attentats im Narrativ des Kriegsausbruchs. Miller-Melamed betont vielmehr die Rolle der politischen Entscheidungsträger in Belgrad und vor allem in den Hauptstädten der europäischen Großmächte. Daher schließt das Buch so folgerichtig wie schwungvoll mit der Feststellung: "The Sarajevo assassination [...] was really "nothing" - as Franz Ferdinand bravely if ironically said about his fatal wound - without the "realistic", unrestrained men who reasoned their way into the realm of fantasy: the First World War" (194).
Von der zugespitzten Formulierung abgesehen, steht Miller-Melamed bei seinem Erklärungsansatz für den Kriegsausbruch im Einklang mit einem großen Teil der neueren Forschung zur Julikrise. Auch bei der Kontextualisierung des Attentats baut seine Darstellung auf etablierten Mustern auf. Dies gilt für die knappen Skizzen der politischen Kultur und Großmächtekonstellation Europas um 1900 (17-43), der Entwicklung Bosnien-Herzegowinas und Serbiens seit 1875 (49-54, 75-95), der Machtpolitik auf dem Balkan von 1911 bis zum Frühsommer 1914 (111 f., 117-126) und der Kriseneskalation 1914 (167-184). Einen Akzent setzt Miller-Melamed bei der Analyse des Krisenmanagements in Belgrad und Wien im Juli 1914. Ähnlich wie vor ihm bereits beispielsweise Christopher Clark, betont er die Bedeutung der konkreten machtpolitischen Gegensätze auf dem Balkan für den Kriegsausbruch (185). Auch in der Frage nach den Hintergründen von Princips Attentat vertritt Miller-Melamed eine klare Position. Die Motive Princips und seiner Mitstreiter im "Jungen Bosnien" leitet Miller-Melamed vor allem aus Erfahrungen in Bosnien-Herzegowina ab (55-63, 95-104). Die Vorbereitung und Durchführung des Attentats lassen seiner Ansicht nach keinen vernünftigen Zweifel am Dilettantismus der Verschwörer. Dafür, dass die Gruppe der Attentäter, zu der Princip gehörte, von der serbischen Untergrundorganisation "Schwarze Hand" gelenkt worden wäre, sieht er keine belastbaren Indizien (133-159).
Über die Attentäter ist immer wieder geforscht und geschrieben worden. Auch die Passagen über Franz Ferdinand bauen auf einer breiten Quellen- und Literaturbasis auf (44-47, 63-73, 104-111). Ganz zu schweigen von der Forschungsliteratur zum Kriegsausbruch 1914 und seinen Voraussetzungen in der internationalen Politik, die Miller-Melamed aufgreift. Bei der Fülle an Themen und Thesen, die zu berücksichtigen sind, wenn das Attentat entmythisiert werden soll, bedarf es darstellerischen Geschicks, um nicht bei einem Verschnitt aus Krimi und Textbuch zu enden. Dieses Geschick besitzt Miller-Melamed zweifellos, weshalb die Lektüre leichtfällt. Zu den erzählerischen Kniffen zählt es, die Lebensgeschichten von Erzherzog Franz Ferdinand und Gavrilo Princip, von Opfer und Täter gewissermaßen parallel auf den dramatischen Höhepunkt, an der "Street Corner That Started the 20th Century", zulaufen zu lassen. So macht die Erzählung die Faszination plausibel, auf der jener Mythos basiert, den Miller-Melamed eigentlich dekonstruieren möchte. Wie eine BBC-Dokumentation 2003 Princip an jener Straßenkreuzung ein Sandwich angedichtet und planvolles Lauern auf die Gelegenheit zum Schuss auf Franz Ferdinand abgesprochen hat, ist ein treffliches Beispiel dafür, wie gerne auch skurril anmutende Behauptungen Gehör finden und weitergetragen werden (154). Es lohnt sich der Frage nachzugehen, wie, durch wen und aus welchen Gründen das Attentat von Sarajevo ein so wichtiger Teil der Erzählmuster geworden und geblieben ist. Was jedoch auch in Miller-Melameds anregender Studie nur gestreift werden kann, ist die noch weiter ausgreifende Frage danach, worin die Bedeutung von Ereignissen in historischen Narrativen liegt.
Günther Kronenbitter