Sebastian Bischoff: Kriegsziel Belgien. Annexionsdebatten und nationale Feindbilder in der deutschen Öffentlichkeit, 1914-1918 (= Historische Belgienforschung; Bd. 4), Münster: Waxmann 2018, 329 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-8309-3705-0, EUR 39,90
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Mit der Ablehnung des deutschen Ultimatums vom 2. August 1914 und dem Entschluss der belgischen Regierung, sich einem Einfall der kaiserlichen Truppen und der Verletzung der Neutralität mit allen militärischen Mitteln entgegenzustellen, wurden Belgien und seine Bevölkerung zu Feinden des deutschen Kaiserreichs. Die brutale Gewalt gegen die belgische Zivilbevölkerung, die von sich im "Franktireurkrieg" [1] wähnenden deutschen Truppen nach dem Einfall am 4. August ausging, führte - als Gegenstück zur internationalen Solidarisierung mit poor litte Belgium - zu einer medialen Rechtfertigungsschlacht in der deutschen Öffentlichkeit. Nicht selten ging dies mit der "Barbarisierung" der belgischen Bevölkerung einher.
Mit der Besetzung Belgiens und der Einrichtung des Generalgouvernements wurde das Land dann im Kaiserreich zum Gegenstand der Kriegszieldebatten. Belgiens Existenzberechtigung und sein Platz in einer neuen Ordnung, die sich nicht nur auf Europa, sondern auch auf seine Kolonialreiche erstrecken sollte, bildeten zentrale Diskussionspunkte in den zahlreichen Publikationen und Denkschriften, die während des Kriegs an die Öffentlichkeit gelangten.
Auf Grundlage eines Quellenkorpus aus 14 Tageszeitungen und 27 Zeitschriften, die entweder über die gesamte Kriegsdauer oder für Zeiträume mit intensiveren Debatten ausgewertet wurden, untersucht Sebastian Bischoff in seiner Paderborner Dissertation die Konstruktion "nationaler Feindbilder" in der deutschen Öffentlichkeit. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zu Forschungen über Stereotypisierungen in der Kriegszeit. Dies geschieht nicht zuletzt durch eine souveräne Kenntnis der Literatur zur "Kriegszieldebatte" und zur deutschen Besatzungspolitik in Belgien, die Bischoff auch mit schlüssigen Argumenten korrigiert, wo seine Resultate dies nahelegen. So wendet er sich etwa gegen die kürzlich noch von Herfried Münkler vertretene Position, nach der die Kriegszieldiskussion vor November 1916 nicht geführt werden konnte.
Die Studie ist in vier Teile unterteilt: Neben Einleitung und Schluss findet sich ein Teil zu den "Gräuel- und Völkerrechtsdebatten" und einer zu den "Annexionsdebatten". In diesen beiden Hauptteilen ist der Zugriff auf einer ersten Ebene chronologisch und auf der zweiten thematisch. Dazu kommen Exkurse zu wirkmächtigen Belgienbildern, von denen der zur "Kolonialen Matrix" (110-120) besonders aufschlussreich ist.
Bischoffs Feststellung, dass "der Nationalismus im Deutschen Reich [...] im belgischen Fall vor dem Problem stand, die absolute Bösartigkeit und Verdorbenheit Belgiens nachweisen zu müssen und gleichzeitig nicht auf vorhandene, bereits durchgesetzte Bilder zurückgreifen zu können" (61f.), führt zur Beobachtung, dass "sehr oft Bilder größerer Nationen zusammengesetzt" wurden. Bischoff kann zudem zeigen, in welch hohem Maße sich deutsche innenpolitische Auseinandersetzungen in der Bildformung zu Belgien niederschlugen. Es verwundert denn auch nicht, dass die in Presse und politischen Diskursen vorgenommenen Stereotypisierungen sehr heterogen waren. Außerdem hing ihre Intensität eng mit Kriegsverlauf und Stimmung an der Heimatfront zusammen.
Auf die Vielzahl von Themen, Analysen und interessanten Einzelbeobachtungen kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Bemerkenswert sind insbesondere die Passagen zu katholischen und zu sozialdemokratischen Belgiendiskursen und -bildern, mussten für diese Stereotype doch teilweise große intellektuelle Verrenkungen unternommen werden. Auch die Abschnitte, in denen - zumal im Lager der Sozialdemokratie - annexionistische und antiannexionistische Diskurse gegenübergestellt und analysiert werden, sind gelungen.
Für den gesamten Untersuchungszeitraum macht Bischoff deutlich, wie sehr Belgien als geostrategisch bedeutendes Land gesehen wurde. Dagegen ließen die Bilder, die sich während der ersten Kriegswochen in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit festgesetzt hatten, eine Eingliederung der belgischen Bevölkerung kaum als wünschenswert erscheinen. Als nach dem Kriegsende plötzlich belgische Annexionsforderungen gegenüber dem Deutschen Reich laut wurden, wurden diese im Übrigen unter ähnlichen Prämissen diskutiert.
Einige kleinere (geografische) Präzisionsfehler fallen kaum ins Gewicht. Zu manchen der zitierten Autoren (zumal Journalisten) hätte man sich vertiefte biografische Informationen gewünscht. Hauptkritikpunkt ist jedoch, dass die Perspektive auf die Belgienbilder und Feindbildkonstruktionen vor allem eine der Berliner Hauptstadt ist. Der Grenzraum als zentrale Kontaktzone, wo sich diejenigen, die nun mit Stereotypen belegt wurden, bis in den August 1914 begegneten, bleibt blass. So fehlen die wichtigen Studien zu grenzüberschreitenden sozialen Bewegungen von James Brophy oder Herbert Ruland im Schriftenverzeichnis und im sehr knappen Unterkapitel zu den Vorkriegsbeziehungen. [2] Dass beispielsweise die "Kölnische Volkszeitung" nur aus zweiter Hand bzw. auf Grundlage von Quelleneditionen zitiert wird und nicht zum systematisch ausgewerteten Zeitungskorpus gehört, ist unverständlich. Denn auch aus der Grenzregion gab es Wortmeldungen zur Kriegszieldiskussion, die öffentlich diskutiert worden sind. [3] Hier hätte die recht schlanke Studie sicherlich noch ein Kapitel verkraftet.
Trotz dieser Einwände hat Sebastian Bischoff eine sorgfältig recherchierte, ausgesprochen gut lesbare, unser Wissen deutlich erweiternde Studie vorgelegt. Sie lädt zudem dazu ein, sich mit dem Erbe deutscher Belgiendiskurse und -bilder in der Nachkriegszeit auseinanderzusetzen und über deren Entwicklung und langfristige Folgen für das Verhältnis der beiden Nachbarn nachzudenken.
Anmerkungen:
[1] Bischoff konnte auf Ulrich Keller: Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914, Paderborn 2017 nicht mehr eingehen.
[2] James M. Brophy: Dimensions transnationales de la culture politique rhénane, 1815-1848, in: Revue d'histoire du XIXe siècle 46/1 (2013), 73-93; Herbert Ruland: Zum Segen für uns alle. Obrigkeit, Arbeiterinnen und Arbeiter im deutsch-belgischen Grenzland 1871-1914, Eupen 1999.
[3] Als in der Forschung bekanntes Beispiel: Graf Levin Wolff Metternich (Bürgermeister der Grenzstadt Eupen) an Auswärtiges Amt, 1.12.1917, Denkschrift über den Deutsch sprechenden Teil von Belgisch-Limburg. Vgl. Heinz Doepgen: Die Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1920, Bonn 1966, 29-60.
Christoph Brüll