Stiftung Deutsches Historisches Museum (Hg.): Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt, München: Hirmer 2017, 432 S., 457 Farbabb., ISBN 978-3-7774-2718-8, EUR 45,00
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Von zahlreichen Sponsoren unterstützt haben 44 Autorinnen und Autoren sowie zahlreiche Fachlektoren, Übersetzer und weitere hilfreiche Geister im Auftrag des Deutschen Historischen Museums zu Berlin einen mit 432 Seiten im Foliantformat beeindruckend umfangreichen Beitrag zum Reformationsjubiläum 2017 geleistet. Sie akzentuieren wohlüberlegt die Wirkungsgeschichte des reformatorischen Aufbruchs, der sich mit dem - historisch allemal umstrittenen - Thesenanschlag in Wittenberg am 31. Oktober 1517 nachhaltig und wirkmächtig entfaltet hat. Auch wenn die Akteure vor 500 Jahren kaum den Weltkreis (orbis terrarum) in den Blick genommen haben dürften - Luther erwies sich gegenüber den Nachrichten aus der neuen Welt als ausgesprochen uninteressiert -, so legt deren Gegnerschaft zu einer Institution, die im Namen weltweite Geltung und Wahrheit beansprucht, nämlich die katholische Kirche, durchaus den Blick auf die globale Rezeption nahe. Wie überhaupt im Zuge der Jubiläumsfeierlichkeiten die durch diese provozierten Veröffentlichungen nur zu einem geringen Teil das historische Geschehen und dessen theologische Initiation als vielmehr deren Folgen bis in die Gegenwart aus verschiedensten Perspektiven in den Blick genommen haben.
Der Katalog ist in fünf Kapitel und einen Ausblick gegliedert, wobei stets drei knapp gehaltene Aufsätze das Kapitel-Thema umreißen und anschließend mit ansprechenden Texten die Exponate erklärt werden. Unter denen überwiegt notgedrungen die sogenannte "Flachware", obwohl es den Kuratoren der Ausstellung gelungen ist, einige dreidimensionale Objekte in die Präsentation einzufügen. Die Vorstellung der Exponate wird in insgesamt 371 Abbildungen dokumentiert, wobei beispielsweise das koreanische "Leben Jesu Christi", unter der laufenden Nummer 242 abgedruckt, aus 30 Tuschezeichnungen auf Seide besteht, wodurch sich die tatsächliche Zahl der Abbildungen signifikant erhöht. Angesichts der großen Zahl von gleichzeitigen Ausstellungen und der dieser kaum korrespondierenden Zahl von möglichen Exponaten kann man über die Auswahl der gezeigten Artefakte füglich streiten. Das ist allerdings zum größten Teil die Druckerschwärze der Kritik nicht wert, weil zu einem nicht geringen Teil pragmatische Gründe für die Zusammenstellung der Ausstellungen gesprochen haben. So verbindet sich für den einen oder anderen Betrachter die kritische Rückfrage, warum die Aussteller dieses oder jenes Bild verwandt haben, auch mit einer nicht minder kritischen Evaluation der eigenen Erwartungshaltung. Dieser didaktische Effekt ist in der Ausstellung an einigen Stellen durchaus gelungen.
Die Spuren der Reformation werden zunächst in Europa und sodann exemplarisch in Schweden, den Vereinigten Staaten von Amerika, Korea und Tansania verfolgt. Dass angesichts der Fülle von Luther- und Reformationsbezügen in der Welt eine Auswahl getroffen werden muss, leuchtet schon aus pragmatischen Gründen ein. Warum aber ausgerechnet diese Regionen der Welt dafür herhalten müssen, deren Entwicklung zudem als "Sonderweg" charakterisiert wird, findet keine Erläuterung. Die Autoren für die Textbeiträge sind in einem weiten disziplinären Spektrum verortet, das als im weitesten Sinne kulturwissenschaftlich zu charakterisieren ist.
Den ersten Abschnitt "Reformationen" verantworten drei ausgewiesene Historikerinnen mit unterschiedlichen fachlichen Schwerpunktsetzungen: Ulinka Rublack, Volker Reinhardt und Margit Kern skizzieren in ihrer aus anderen Publikationen hinlänglich bekannten Sichtweise das Reformationsgeschehen. Kirchenhistoriker würden dann doch die eine oder andere Frage an die Skizzen richten wollen. - Das zweite Kapitel wählt Schweden als Beispiel einer lutherischen Großmacht und lässt in drei Aufsätzen zunächst die Entwicklung Schwedens unter den Wasa-Königen (Otfried Czaika), sodann die Geschichte der Sámi in Schweden im 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Håkan Rydving), sowie schließlich die Aufnahme zentraler theologischer Entwicklungen aus dem Kernland der Reformation, nämlich die Ausdifferenzierung des konfessionellen Luthertums in Pietismus und Orthodoxie (Anders Jarlert), Revue passieren. Die Akzentsetzung ist dabei nicht ganz unwidersprochen hinzunehmen. Vor allem die Einflussnahme Schwedens im Dreißigjährigen Krieg und der Ausbau des Schwedischen Reiches sind nur bedingt mit der konfessionellen Positionierung zu identifizieren. Der religionsgeschichtlich hochinteressante Assimilationsprozess einer lange Zeit ihre Traditionen bewahrenden indigenen Volksgruppe aus dem Norden der skandinavischen Länder trägt ganz sicher bemerkenswerte Details der Missionsgeschichte und der Aneignung reformatorischen Gedankenguts vor. Freilich ist noch zu erkunden, welche exemplarische Bedeutung dieses Phänomen für die weltweite Verbreitung der Reformation tatsächlich hatte. Bereits die Überschrift des dritten Aufsatzes macht deutlich, dass die Rezeption einiger Ausdifferenzierungen der deutschen Theologie und ihrer Rezeptionen in Schweden einen Sonderweg gegangen ist. Insofern die schwedische Religiosität bis in die Gegenwart von diesen Entwicklungen geprägt ist, trägt der Aufsatz in nicht geringer Weise zum Verständnis der dortigen Mentalitäten und Kulturformationen bei.
Die hinlänglich bekannte protestantische Prägung der englischen Kolonien und später von England und Frankreich unabhängigen nordamerikanischen Staaten wird im dritten Kapitel umrissen. Dabei fällt die innerprotestantische Konfessionsscheidung allerdings kaum ins Gewicht. Lisa Minardi, Sebastian Jobs und Michael Hochgeschwender skizzieren Aspekte der Entwicklung in sehr groben Strichen. Der These, dass die Entwicklung Nordamerikas ohne protestantische Einflussnahme kaum zu rekonstruieren ist, wird man kaum widersprechen können. Dass aber der konfessionelle Protestantismus nur einen kleinen Teil der vielfältigen Bewegungen darstellte und insbesondere calvinistische und dissidente Protestantengruppen sich Gehör verschaffen konnten, geht in dem sehr knappen Entwurf unter. Völlig unberücksichtigt bleibt die Rolle der katholischen Einwanderer.
Drei Aufsätze dokumentieren den protestantischen Aufbruch in Korea, wobei auch hier das Hauptaugenmerk auf die Annahme der reformierten Überzeugungen gelegt werden muss. Allerdings sollte daraus nicht vorschnell eine Dokumentation der Weberschen These vom Geist des Kapitalismus aus dem reformierten Erbe abgeleitet werden. Bleibt doch festzuhalten, dass auch im religionstoleranten Süden Koreas die Christen eine zwar wachsende, aber immer noch zahlenmäßig kleine Gruppe darstellen. Auch hier ist der Einfluss des modernen Katholizismus nicht zu unterschätzen; er fehlt bis auf die knappe Erwähnung auf Seite 263 nahezu völlig. Die einführenden Beiträge von Ryu Dae Young, James Grayson und Lee You Jae skizzieren die wechselvolle Beziehung zwischen Christentum und koreanischer Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Die entscheidende Zäsur des Korea-Krieges und der Teilung des Landes führen zu einer politischen Vereinnahmung des Protestantismus im Süden, die erneut einen "Sonderweg" dokumentiert. Für wirtschaftlichen Erfolg, Anti-Kommunismus und die deutliche Nähe zu den westlich orientierten Großmächten unter der Führung der USA werden - in theologisch durchaus fragwürdiger Weise - christliche Werte und Aussagen legitimatorisch in Anspruch genommen. Dass hier die protestantischen Kirchen als "sozialer Kitt" der Gesellschaft fungieren (279), wäre religionssoziologisch noch einmal näher zu analysieren.
Die protestantische Prägung Afrikas wird exemplarisch für Tansania nachgezeichnet, wo die lutherische Kirche mit sechs Millionen Mitgliedern in 24 Diözesen als größte evangelische Kirche Afrikas und zweitgrößte der Welt etabliert ist. Sie wurde von größtenteils lutherischen Missionaren begründet. Sie durften nahezu ungehindert auf den Gebieten der ehemals kaiserlichen Kolonie Deutsch-Ostafrika und ihrer Vorgängerterritorien wirken. Andreas Eckert, Frieder Ludwig, Joseph Parsalaw und Faustin Mahali zeichnen die wechselseitige Interaktion zwischen den vorherrschenden indigenen Überzeugungen und deren christlicher Adaption nach. Tansania und seine christliche Entwicklung stellen innerhalb Afrikas einen Sonderweg dar. Unter dem Stichwort "Mission und Selbstbestimmung" wird ein religionsgeschichtlicher und missionstheologischer Akzent in den Exponaten deutlich, der die protestantische Mission in Tansania auszeichnete: Weniger die Übernahme westlich-europäischer Kulturformen als die Verschmelzung christlicher Grundüberzeugen mit der indigenen Kultur ließen für einige Zeit das Gebiet in Ostafrika zu einem missionarischen Musterfall werden.
Wolfgang Reinhard nimmt in seinem Abschlussessay die Frage nach der globalen Rezeption der Reformation konkludierend auf. Er diskutiert dabei kritisch die Formulierung von Gerhard Ritter von der "Weltwirkung der Reformation" um die Fragwürdigkeit des Globalisierungsansatzes deutlich zu machen. Während sich die Reformation im 16. Jahrhundert im Wesentlichen auf Zentraleuropa beschränkte, wird aus Anlass der Feier ihres 500-jährigen Bestehens tatsächlich die Weltkugel - mit Ausnahme der Pole und Australiens - in den Blick genommen. Die weltweite Wirkung des Protestantismus ist dabei auf der Folie eines nicht minder bedeutsamen "Triumph des Katholizismus" (393) zu sehen, der für die Gebiete Mittel- und Südamerikas zu konstatieren ist. In der Folge stellt Reinhard die bedenkenswerte Frage, ob der Protestantismus die Überwindung des Kolonialismus und der damit verbundenen Traumata von Unterwerfung und Ausbeutung sowie den Verlust eigener kultureller Identität nicht mit zu verantworten hat. Der evangelische Modernisierungsschub trug zur Entwicklung der kolonialisierten Länder und damit ihrem Emanzipationsstreben elementar bei. Reinhard schließt mit einem Plädoyer für eine "gut kulturprotestantische interreligiöse Kommunikation" (Robert Bellah) und sieht in ihr die Möglichkeiten der Globalisierung der reformatorischen Botschaft (401).
Die Exponate nehmen die Text-Entwürfe teilweise auf und dokumentieren vorzugsweise in Bildern und Druckerzeugnissen einige der in den Texten enthaltenen Aussagen. Dazu kommen einige wenige dreidimensionale Objekte. Beide Medien sind geeignet, einerseits die mehr oder minder bekannten Assoziationen zu wecken, die deutsche Besucher der Ausstellung mit den titelgebenden Schlagworten der Beiträge verbinden, andererseits lokale Sonderentwicklungen dokumentiert zu finden, die den bereits eingangs erwähnten selbstkritischen Reflexionsgang durchaus zu stimulieren vermögen. Die exotischen Exponate aus Korea und Tansania haben ihren besonderen Reiz, auch wenn der dezidierte Bezug zum Reformationsjubiläum nur selten erkennbar ist.
Ein 21-seitiges Verzeichnis dekodiert die Literaturhinweise in den Aufsätzen und ermöglicht deren Nacharbeitung. Dabei wird zwischen den zuweilen eher zu den Quellen zu rechnenden älteren Darstellungen und neuerer Forschungsliteratur nicht unterschieden. So ist es dem neugierigen Leser selbst überlassen, sich auf die Argumente der Aufsätze und Exponat-Beschreibungen und den tatsächlich erreichten Forschungsstand einen Reim zu machen. Ausstellung und Katalog regen dazu an - auch zur kontroversen Diskussion über die enthaltenen Wertungen. Allerdings steht zu befürchten, dass die Schnelllebigkeit der Zeit auch das Erinnern an die globalen Wirkungen der Reformation rasch vergessen lässt.
Markus Wriedt