Marius Kraus: Ulrich von Hutten und seine Gegner. Humanistische Invektiven am Vorabend der Reformation (= Transalpines Mittelalter; Bd. 1), Würzburg: Ergon 2022, 555 S., 47 Abb., ISBN 978-3-95650-914-8, EUR 114,00
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Ein nachhaltig anregender und perspektivenreicher Ansatz historiographisch relevanter Innovation wurde in einem DFG-geförderten Sonderforschungsbereich in Dresden unter dem Titel "Invektivität" von 2017 bis 2022 initiiert. Im Kontext des mediävistischen Teilprojektes D "Agonale Invektiven. Schmährededuelle im italienischen und deutschen Humanismus" ist die vorliegende Arbeit von Marius Kraus entstanden. Sie wurde 2022 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertation angenommen. Die mit 555 Seiten umfangreiche Studie geht in Anlehnung an die Ergebnisse der Bonner Forschungsgruppe "Traditionen okzidentaler Streitkultur. Formen, Sphären und Funktionen öffentlichen Streits" davon aus, dass die geistreich entfaltete Schmähung zum exklusiven Phänomenbestand des aus Italien importierten Späthumanismus nördlich der Alpen gehört. Kraus spricht im Kontext seiner Ausführungen zur humanistischen Elitenbildung von einer "Doppelhelix aus schriftstellerischer Eleganz und tabubrechendem Angriff" (42) bei Hutten. Für das humanistische Milieu insgesamt, besonders aber als Ausdruck von Huttens intransigenter Konfliktleidenschaft (65), erweist sich die Kultur der Beleidigung als charakteristischer Ausdruck ritualhafter Auseinandersetzungen im Zusammenhang von Sprache, Emotion und Gewalt. In drei, weiter untergliederten, Kapiteln schreitet Kraus die zahlreichen Streit- und Schmähadressen des Reichsritters Ulrich von Hutten in weitgehend chronologischer Abfolge ab.
Thematisch konzentriert er sich im ersten Hauptkapitel auf die verschiedenen Wirkungskontexte der Invektivenpublikation im Kontext der umfassenderen Problemkonstellation von Medialität und Öffentlichkeit. Hierbei geht es um insgesamt vier Publikationsaktionen Huttens noch vor der Reformation, in denen er sich mit der Patrizierfamilie Lötz aus Greifswald (1510), Herzog Ulrich von Württemberg (1515-1519), den Klerikern der Orden (1521/22) und Kurfürst Ludwig V. von der Pfalz (1521-22) öffentlich streitet. Allen diesen komplexen Publikationen ist gemeinsam, dass sich Hutten als "Geschmähter" zur Wiedergutmachung - ganz der Theorie des gerechten Krieges folgend - gezwungen sieht. Aus der Strategie der Selbstviktimisierung Huttens (183) und des sich stetig wandelnden mittelalterlichen Fehderechts (191) resultiert ein hohes Innovationspotential der invektiven Performation humanistischer Gelehrsamkeit und adliger Reputation. Die Erweiterung der Publikationstechniken provoziert neue Praktiken des Invektiven und eine Erweiterung von dessen Formenspektrum (192).
Das zweite Kapitel diskutiert die Funktionsbestimmungen invektiver Rede und Schreibe im Kontext der komplexen humanistischen Gruppenbildungsprozesse. Hierbei geht es zunächst um Huttens Stellungnahme zur öffentlichen Verbreitung jüdischer Bücher. Beteiligt waren an dieser Kontroverse der Humanist Johannes Reuchlin und der jüdische Konvertit Johannes Pfefferkorn in verschiedenen Phasen zwischen 1509 und 1521. Hierzu zählen auch die aus anderen Kontexten bekannten "Dunkelmännerbriefe" und Huttens spätere "Absage an Reuchlin" (1521), in der er sich von Reuchlin distanziert. Die "Dunkelmännerbriefe" werden von Kraus als Vorboten der Reformation und literarischer Ausdruck der Gruppenbildungsprozesse innerhalb der Gruppe der deutschen Humanisten gewertet. Auch mit dem Fürsten der Humanisten, Erasmus von Rotterdam, beginnt Hutten eine literarische Fehde, die für Kraus exemplarisch die Ritualhaftigkeit agonaler Konflikte im Humanistenmilieu dokumentiert.
Das dritte Kapitel wendet sich der heterogenen Formensprache der Invektivität im Werk Huttens zu. Als literarisches Beispiel werden dazu seine Angriffe auf die Kurie in Rom und das Papsttum sowie die Parteinahme für Luther im Kontext des Wormser Reichstages von 1521 gewählt. Sie finden sich in der "Augsburger Sammlung" von 1519 zusammengestellt sowie in der "Invektivenfibel" für Kaiser Maximilian. In ihnen dokumentiert sich nach Meinung von Kraus ein 'Umschlagpunkt' der antirömischen Polemik. Sie verbindet sich mit weiteren Invektiven gegen Papst Julius II. Wichtig ist in diesem Kapitel die Erweiterung der Fragestellung über den Textbestand hinaus auf bildliche Darstellungen, die Hutten vor allem im Kontext seines Nationendiskurses einfügt. Hier etabliert sich die dynamische Gruppenbildung der Humanisten in Gestalt eines abgestimmten Kanons an Narrativen.
In einem vierten Kapitel wendet sich Kraus der Editions- und Übersetzungstätigkeit von Hutten zu. Freilich dienen diese Arbeiten nicht einer wertfreien Informationsmitteilung, sondern werden zum Medium spezifischer Invektiven, die zum Teil geschickt in den editorischen Paratexten verborgen sind. Dazu zählen seine Edition von Laurenzo Vallas Traktat über die "Konstantinische Schenkung" (1518/19), die Herausgabe der Schriften "De unitate ecclesiae conservanda" und der Abhandlung "De schismate extinguendo" (1520) sowie der päpstlichen Bannandrohungsbulle "Exsurge Domine" (1520). In diesen Texten verbindet sich massive Kirchen- und Papstkritik mit (vermeintlichen) historischen Belegen für die Rechtmäßigkeit dieser Anliegen.
Diese Kritik manifestiert sich auch in zahlreichen Schreiben des Reichsritters. Die ciceronische Rhetorik wird zum Medium der "humanistischen oratio invectiva" (371). Kraus sieht hier einen generellen Paradigmenwechsel in der vorreformatorischen Kommunikation manifest werden. Dabei spielte der Buchdruck wie bereits erwähnt eine entscheidende Rolle. Dennoch lässt sich auch erkennen, wie "Themenkaskaden des immer Gleichen [...] den Schein des unerhört Neuen nur vorgaukeln" (Zitat von Klaus Neugebauer auf S. 387 mit Anm. 407). Kraus vermag zu zeigen, wie die Paratexte der Editionen einen wichtigen Beitrag zu Huttens Positionierung leisten, indem sie im Kontext des formalen 'Rahmenbruches' Aufmerksamkeit generieren. Insgesamt erweisen die performativen Aspekte literarischer Dialoge auf eine spezifische Kommunikationsstrategie. Hutten sucht im Modus der Herabsetzung und des persönlichen Angriffes die Kommunikationssituation zu stören (389). Das große Reservoir antiker Rhetorik, Lyrik und Invektivkultur diente dazu, das Spracharsenal des Humanisten erheblich zu erweitern.
Die Invektiven im Werk Huttens tragen zu einer Enttabuisierung des Diskurses bei. Sie dienten offenkundig zur Destabilisierung, Erosion und Inversion sozialer Ordnungen und trugen somit zu einer Anomie bei, waren aber auch in der Lage, Solidarisierungsprozesse anzuregen und bestehende Gruppenmuster weiter zu konfirmieren (398). Invektivität und öffentliche Kommunikation verschränkten sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts symbiotisch durch die Neuerung des Buchdrucks. Hutten ist freilich weder der Erfinder noch ein besonders exponierter Vertreter humanistischen Habitus, wie er sich in der Verwendung invektiver Rede manifestiert. Sie diente nicht zuletzt als Distinktionsmittel in Prozessen der Abgrenzung nach innen wie nach außen.
Mit diesem groß angelegten Werk hat Kraus einen Meilenstein gesetzt. Nicht nur seine stupende Gelehrsamkeit - das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst knapp 90 Seiten - auch die mit trefflichen Übersetzungen versehenen, zusätzlichen archivalischen Quellen zum zweiten Kapitel lassen weitergehende und höchst anschlussfähige Beobachtungen zu. Das Buch soll allen an Humanismus und seiner deutschen Manifestation Interessierten als Standardwerk empfohlen sein. Allein - und man verzeihe mir dieses "old school"-Bedenken - geht die Fokussierung auf die Frage nach der Invektivität dann doch sehr selbständige Wege. Fraglos und einleuchtend aus dem Textbefund erarbeitete Beobachtungen werden logisch nachvollziehbar weitergeführt und zu teilweise spekulativen Aussagen erweitert. Ob diese im Fokus der Frage geäußerten Postulate schlussendlich tragfähig sind, kann nur der systematische Vergleich anderer Exponenten des deutschen Humanismus zeigen. Die Forschungen von Kraus wären darüber hinaus auch noch einmal auf den theologiegeschichtlich festgehaltenen deutschen Bibelhumanismus (Junghans u.a.) zu beziehen.
Markus Wriedt