Gabriel Aubert / Amy Heneveld / Cinthia Meli: L'Éloquence de la chaire entre écriture et oralité (XIIIe-XVIIIe siècles). Actes du colloque international de Genève, 11-12 septembre 2014 (= Colloques, congres et conférences sur le Classicisme; 20), Paris: Editions Honoré Champion 2018, 259 S., ISBN 978-2-7453-4520-2, EUR 45,00
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Mündlichkeit versus Schriftlichkeit: Das Spannungsverhältnis ist groß und treibt die Forschung seit langem um. Dies gilt insbesondere für eine der umfangreichsten Quellengattungen innerhalb der Geschichtswissenschaft: die Predigt. Der vorliegende Band verdankt seine Entstehung dem Erkenntnisinteresse einer Frühneuzeithistorikern, Cinthia Meli, Spezialistin für das Predigtwerk Bossuets, der daran gelegen war, aktuelle theoretische und methodologische Fragestellungen zum Thema "Predigt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit" zu bündeln, dabei nicht nur unterschiedliche Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen, sondern auch einen breiteren chronologischen Rahmen als gemeinhin üblich zu behandeln. Abgedeckt wird der Zeitraum von der Entstehung des sermo modernus im 13. Jahrhundert bis hinein ins 18. Jahrhundert, wobei der geographische Schwerpunkt der 15 Beiträge klar auf Frankreich liegt.
Meli selbst eröffnet den Band mit Überlegungen zu einer Theorie der Predigtliteratur (7-22), Gedanken, die von Marco Mostert in seinem anregend zu lesenden [1], jedoch nicht immer mit der letzten logischen Stringenz voranschreitenden Beitrag teilweise mit aufgegriffen werden (Medieval Sermons as forms of communication: between written text and oral performance, 23-35). Mosterts Aussage "The history of the sermon has indeed become dissociated from the history of preaching" (28) ist zwar zuzustimmen, doch war zumindest dem Rezensenten bei der Lektüre nicht immer klar, für welchen Zeitraum das gelten soll. Auch Michel Zink fragt in seinem eher theoretisch ausgerichteten Beitrag danach, wie man der Realität des historischen Predigtakts gerecht werden kann, wo doch die Sprache seit langem verklungen und nur noch in der abgewandelten Form des verschriftlichten Texts greifbar ist (Un ton entendu. De quelle oreille lire les sermons?, 37-48). Völlig zu Recht warnt er davor, mit dem Begriff einer "éloquence de la chaire" die mittelalterliche Predigtrealität beschreiben zu wollen, suggeriere er doch eine Kontinuität zwischen antiker und geistlicher Rhetorik, die so niemals existiert habe. Zink verweist in der Folge auf eine Form der "Pluripotenz" verschriftlichter Predigten, die sich anderen, verwandten Genera annähern können.
Dieser Aspekt wird auch in weiteren Artikeln beleuchtet, nirgendwo stärker als in Holly Johnsons Ausführungen über das Predigtwerk des Robert Rypon (Master Robert Rypon and the making of a model sermon collection, 63-76). Rypon, als Benediktiner in Durham um die Wende zum 15. Jahrhundert agierend, verfasste eine auf tatsächlich zuvor gehaltenen Predigten beruhende Musterpredigtsammlung (British Library, Ms. Harley 4894), mit der er vor allem pädagogische Zwecke verfolgte. Die Handschrift mit 59 lateinischen Predigten und einem Index vermittelt eine "overall impression of orderliness and forethought" (65) und entstand unter direkter Mitwirkung Rypons. Präsentiert wird eine Reihe ansprechend konzipierter, scholastischer Sermones, auf die jüngere Mönche bei der Ausarbeitung ihrer eigenen Predigten zurückgreifen konnten. Tatsächlich fließen in der Handschrift einige "predigtaffine" Genera zusammen, so dass man nicht nur von einer Musterpredigtsammlung, sondern auch von einer Exempelsammlung, einem Florilegium, ja sogar einer Ars praedicandi sprechen könnte.
Auf unterschiedliche Formen der Predigtverschriftlichung wird in der Folge eingegangen. Carolyn Muessig demonstriert dies anhand von Reportationes, Predigtmitschriften, die von Zuhörern erstellt wurden (Medieval reportationes: Hearing and listening to sermons through the ages, 77-90). Nach einem kurzen Überblick über das Phänomen wird anhand von Beispielen aus der franziskanischen Observanten-Reformbewegung des 15. Jahrhunderts, an vorderster Stelle Bernardino da Siena (1380-1444), gezeigt, welche "performativen Marker" solche Reportationes enthalten konnten. Sie gewähren nicht nur Einblick in die Interaktion zwischen Prediger und Zuhörerschaft, sondern künden im konkreten Fall des Bernardino da Siena auch vom ungeheuren Anspruch des Predigers, war Bernardino doch der festen Überzeugung, dass religiöse Identität zuvorderst durch das Anhören von Predigten erworben werden könne. Die Aussage, in der er verkündet, das Hören von Predigten sei wichtiger als die Anwesenheit beim Messopfer, ist weit über den Bereich der Predigtforschung hinaus bekannt geworden. [2]
Neben einfachen Mitschriften gab es freilich auch sorgfältig ausgearbeitete Predigten, die ihre Entstehung einer Form von réécriture verdanken. Darauf gehen sowohl Véronique Dominguez anhand des Jeu d'Adam, des ältesten dramatischen Textes französischer Zunge (Dieu, la Sybille et le premier homme, nouvelles voix de la chaire? Performance et liturgie dans l'Ordo representacionis Ade (XIIe-XIIIe siècle), 49-62), als auch Julien Goeury ein (Des sermons prononcés comme ils ont été écrits ou bien écrits comme ils ont été prononcés?, 131-146). Deutlich wird, dass man im Akt der Niederschrift sich durchaus darüber Gedanken machte, was das Fehlen von Mimik und Gestik, was die Absenz improvisatorischer Elemente für die Rezeption des eigenen Werks bedeutete. Isabelle Brian widmet dieser Thematik mit Blick auf das französische 17. Jahrhundert ungemein lesenswerte Zeilen (Éloquence du corps et "prédication muette", 147-163).
Zentral war die Frage danach, ob ein Wechsel des Mediums mehr als den Wechsel des Rezipientenkreises bedeutete. Eindrücklich dargestellt wird dies am Beispiel des Jean Calvin, in dessen verschriftlichten Predigten sich Spuren von Mündlichkeit finden lassen (Millet, Olivier: Calvin prédicateur / ou auteur? Ses sermons, leurs impressions et leur public, 107-119). Calvin wusste genau, dass eine Predigt stets aus dem Augenblick heraus entstand und die von ihm gepflegte Form des "improvisierenden Predigens" allzu ausgedehnte Ausflüge in die hehren Sphären oratorischen Raffinements deutlich erschwerte. Deshalb stand er der Vorstellung, seine eigenen Predigten gedruckt zu sehen, grundsätzlich ablehnend gegenüber. Doch war ihm auch klar, dass seine zunächst nur für ein Genfer Publikum konzipierten Sermones durch den Druck verbreitet werden und in Gebiete gelangen konnten, in denen Calvinisten von Verfolgung bedroht waren. Ganz zu schweigen davon, dass sie als Steinbruch für minderbegabte protestantische Prediger dienen konnten.
Auch John Donne Sen., geschätzter Dekan der Londoner Kathedrale St. Paul's, stand der Aussicht, seine eigenen Werke gedruckt zu sehen, vergleichsweise leidenschaftslos gegenüber. Für ihn war das aktive "moralische" und geistgeleitete Anhören seiner Predigten wichtiger als die Zurschaustellung überbordender Eloquenz. Peter McCullough zeigt eindrücklich, wie aus den sechs zu Lebzeiten gedruckten Predigten im Laufe einiger Jahrzehnte 160 wurden (The "canonization" of John Donne's sermons, 121-130). Nach dem Tod Donnes (1631) sorgte sein gleichnamiger Sohn, John Donne Jun., dafür, dass zunächst 80 Predigten seines Vaters gedruckt wurden. Damit wollte er seine eigene Karriere innerhalb der Church of England befördern; 1649 legt er weitere 50 Predigten vor, konnte sie nun aber nicht mehr König und Erzbischof dedizieren, denn diese waren hingerichtet worden. Widmungsträger wurden nun also diejenigen Politiker, die massiv in die Geschicke von Königreich und Kirche eingegriffen hatten. Wendig wie Donne Jun. war, bereitete es ihm keine größeren Mühen, 1661 einen letzten Band mit 24 Predigten zu publizieren, die - der Restauration sei Dank - nun wieder dem König gewidmet werden konnten. Eine gewisse weltanschaulich-politische Flexibilität wird man ihm nicht absprechen können. Was allerdings betrübt, ist die zunehmende Fehlerdichte, die sich in den Druckausgaben von 1640 über 1649 bis 1661 deutlich erhöhte und mit der die Forschung noch heute zu kämpfen hat - denn inwieweit das, was Donne Jun. in Druckform vorlegte, dem entsprach, was der Dean von St. Paul's so erfolgreich von der Kanzel predigte, ist nach wie vor umstritten.
Der vorliegende Band besticht durch die Qualität vieler Beiträge, die sich (bewusst oder unbewusst) aufeinander beziehen. Daraus lassen sich höchst interessante Entwicklungslinien ableiten. Der Rezensent gesteht, dass es vor allem die rein literaturwissenschaftlich ausgerichteten Artikel waren, bei denen er sich nicht in jedem Fall sicher war, ob die elaborierte, rezeptionserschwerende sprachliche Gestalt nicht nur über die Banalität so mancher Aussage hinwegtäuschen sollte.
Die Aufsatzsammlung demonstriert jedoch eindrücklich, wie viel im Bereich von "Mündlichkeit und Schriftlichkeit" bereits geleistet worden ist, wieviel darüber hinaus für die Predigtforschung aber noch zu tun bleibt.
Anmerkungen:
[1] Insbesondere Mosterts These, eine verschriftlichte Predigt weise immer dann eine größere Nähe zum vorangegangenen Sprechakt auf, je mehr der von Walter Ong in seiner Schrift "Orality and Literacy: The Technologizing of the Word" (London/New York 1982) entworfenen neun Charakteristika für Mündlichkeit darin auszumachen seien, bedarf der Überprüfung.
[2] Bernardino da Siena: Prediche volgari sul Campo di Siena 1427, hg. v. Carlo Delcorno, Mailand 1989, 2 Bde., hier I, 149-150.
Ralf Lützelschwab