Bastian Vergnon: Die sudetendeutschen Sozialdemokraten und die bayerische SPD 1945 bis 1978, Frankfurt am Main: PL Academic Research 2017, 508 S., 2 Kt., ISBN 978-3-631-73535-0, EUR 64,95
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Als die sudetendeutschen Sozialdemokraten die Züge in Richtung Bayern bestiegen, fuhren sie einer unsicheren Zukunft entgegen. Ob sie ihre angestammte Heimat jemals wiedersehen und wie es ihnen am Ziel ihrer Reise ergehen würde, war ungewiss. Zu den Sorgen und Nöten, die das Schicksal von Flüchtlingen damals wie heute kennzeichneten, kam für die vertriebenen Genossinnen und Genossen eine weitere Frage: Hatten sie mit ihrem Zuhause auch ihre politische Heimat, die Sozialdemokratie, verloren? Wir würde es mit der sudetendeutschen Sozialdemokratie im Exil weitergehen? Rückblickend können wir sagen, dass die Integration glückte und dass die bayerische SPD ganz wesentlich von den Neuankömmlingen profitierte. Wie sich die Integration der sudetendeutschen Sozialdemokraten aber konkret gestaltete, war, wie so viele Aspekte der Geschichte der bayerischen SPD nach 1945, weitgehend unbekannt. Umso erfreulicher ist es, dass erste Arbeiten zu diesem Thema [1] mit Bastian Vergnons Monographie eine Fortsetzung finden.
Zu Beginn der Arbeit rückt der Autor den Heimatbegriff ins Zentrum seiner konzeptionellen Überlegungen. Das macht Lust auf mehr, stellte sich doch die Frage, welche sozialen Dimensionen eine Partei jenseits ihrer politischen Tätigkeit definieren, in der bewegten Geschichte der Sozialdemokratie immer wieder. Dabei sind die spezifischen politischen Traditionen wie auch die identitätsstiftenden Erfahrungen der sudetendeutschen und bayerischen Sozialdemokraten vor und während des Zweiten Weltkriegs von Interesse. Diesen widmet sich der Autor im dritten Kapitel (nach Einführung und methodischen Erläuterungen). Vergnon bereitet somit die Bühne für das Aufeinandertreffen zweier SPD-Organisationen, in deren Geschichte verbindende Elemente wie der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ebenso zutage treten wie dezidierte Unterschiede. Dazu zählt etwa die Antwort auf die sozialdemokratische Gretchenfrage nach der Verortung der Partei im linken Politikspektrum.
Das vierte und umfangreichste Kapitel befasst sich mit der Vertreibung der sudetendeutschen Sozialdemokraten, ihrer Ankunft in Bayern und dem steinigen Beginn ihrer Integration. Gerade hier führt Vergnon den Beweis, dass Zeitzeugeninterviews eine bemerkenswerte Bereicherung bedeuten können. Trotz der Behandlung von Einzelschicksalen geht der Blick für das größere Ganze nicht verloren. Die Eingliederung der Flüchtlinge in die Partei und deren Eigeninitiative bei der Neugründung von Organisationen wird in den Kontext der bayerischen Flüchtlingspolitik unter Ministerpräsident Hoegner (SPD) eingebettet. Deutlich wird in diesem Kapitel auch, dass die Verschmelzung der zwei Parteitraditionen ein konfliktträchtiges Unterfangen war. Beim Aufstellen von Kandidatenlisten und der Frage nach den aussichtsreichsten Plätzen war es mit Solidarität gegenüber den neuen Genossinnen und Genossen rasch vorbei. Dass die SPD im Allgemeinen aber die engagiertere der beiden Volksparteien war, wenn es um die Interessenvertretung der Heimatvertriebenen ging, weiß Vergnon sowohl anhand der Parteimitgliedschaften wie auch in der Landespolitik nachzuweisen. Dennoch wurden die hohen Erwartungen, die sowohl die sudetendeutschen Mitglieder als auch die Heimatvertriebenen überhaupt an die SPD richteten, nicht selten enttäuscht.
Im fünften Kapitel befasst sich der Autor mit der Gründung der "Seliger Gemeinde" (SG) als Dachorganisation der sudetendeutschen Sozialdemokraten. Der SG kam als bewusst sozialdemokratischer Institution eine herausragende Rolle bei der Integration der Vertriebenen zu. Sie konnte zudem als Gradmesser für das Verhältnis zu anderen Vertriebenen-Organisationen gelten, was Vergnon insbesondere anhand der Auseinandersetzungen mit den sudetendeutschen Landsmannschaften betont. Gerade dieser vorpolitische Raum der Vereine und Verbände wurde zur Arena im Kampf um die Herzen der potentiell wahlentscheidenden, sudetendeutschen Wählerinnen und Wähler.
Dass die SPD dabei häufig auf der Verliererseite stand, wird im sechsten Kapitel deutlich. Bei der Darstellung und Diskussion der Landespolitik attestiert Vergnon der Partei zwar eine verstärkte Hinwendung zum Wählersegment der Vertriebenen, doch wurde Flüchtlingspolitik konsequent als sozio-ökonomische Herausforderung betrachtet. Auf eine dezidiert kulturpolitische Komponente hofften die Vertriebenen aus den Reihen der SPD vergebens. Dazu passt, dass im Zeichen des allgemeinen Aufschwungs das Interesse an der Flüchtlingsthematik schon in den 1950er Jahren schwand - ein Trend, der sich in den 1960er Jahren fortsetzte.
Das siebte Kapitel steht im Zeichen der Kommunalpolitik. Wo die sudetendeutschen Sozialdemokraten in Form von Ortsvereinen erste eigene Wurzeln schlugen bzw. bestehende Ortsvereine wesentlich verstärkten, ist hier nachzulesen. Besonderes Augenmerk schenkt der Autor dabei den Vertriebenengemeinden, insbesondere Waldkraiburg.
Mit Beginn der sozialliberalen Ära wendet sich Vergnon in seinem achten Kapitel dem Themenkomplex Neue Ostpolitik und ihrer Bedeutung für die sudetendeutschen Sozialdemokraten im Freistaat zu. Erstmals findet die CSU im Rahmen ihres Schulterschlusses mit den Vertriebenenverbänden in nennenswertem Umfang Erwähnung. Die Spannungen zwischen den heimatvertriebenen Sozialdemokraten und ihren rechtsgerichteten Schicksalsgenossen erreichten jetzt ihren vorläufigen Höhepunkt. Doch nicht nur von konservativer Seite gerieten die sudetendeutschen Sozialdemokraten - wie die SPD als Ganzes - unter Druck. Von links polemisierten die Jusos gegen das Parteiestablishment, auf dessen Seite mit Volkmar Gabert einer der prominenten sudetendeutschen Sozialdemokraten stand.
Mit seiner Monographie legt Bastian Vergnon eine Arbeit vor, der man ihre großen Ambitionen ansieht. Chronologisch bis in die 1930er Jahre zurückgehend, untersucht der Autor die Geschichte von vier Jahrzehnten, die zu den bewegtesten der deutschen Geschichte zählen. Trotz dieser Herausforderung gilt es, die wichtigsten Figuren der sudetendeutschen Sozialdemokratie in Bayern zu ihrem Recht kommen zu lassen - Volkmar Gabert ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Auch die sudetendeutschen Politiker in der Bundes-SPD durften nicht fehlen, und auch verwaltungsgeschichtliche Exkurse zu den bayerischen Ministerien und ihrer Bedeutung für die Flüchtlingspolitik finden sich. Eingedenk dieser Bandbreite droht jedoch der rote Faden verlorenzugehen, den der Autor zu Beginn der Arbeit mit der Frage nach der politischen Heimat aufgenommen hat. Dieses Defizit hängt freilich mit einer der Stärken der Studie zusammen: der immensen Informationsdichte. Als Beispiel sei eine zumindest annäherungsweise Bestandsaufnahme der Parteieintritte von Sudetendeutschen und der von ihnen initiierten Gründung von Ortsverein genannt; eingedenk der undankbaren Quellenlage eine beachtliche Leistung. Dass Bastian Vergnons Buch weitere Arbeiten zur Geschichte der bayerischen SPD anstoßen wird, bleibt zu hoffen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Jaromír Balcar: Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz. 1945 bis 1972, München 2004; Dietmar Süß: Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945-1976, München 2003.
Philipp Scheidle