Rezension über:

Brigitte Seebacher: Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied. Zur Geschichte der Sozialdemokratie, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2023, 719 S., ISBN 978-3-8012-0647-5, EUR 49,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Felix Lieb
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Felix Lieb: Rezension von: Brigitte Seebacher: Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied. Zur Geschichte der Sozialdemokratie, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 3 [15.03.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/03/38244.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Brigitte Seebacher: Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied

Textgröße: A A A

Mit Recht nennt sich Brigitte Seebachers Buch nicht "die" Geschichte der Sozialdemokratie, sondern versteht sich als Beitrag "zur" Geschichte der Sozialdemokratie. Bereits im Vorwort offenbart die Autorin, bis 1995 Mitglied der SPD, ihre persönliche Verbindung zum Untersuchungsgegenstand und reflektiert ihr in den 1960er Jahren entstandenes Selbstverständnis als Sozialdemokratin vom "rechten Flügel". Von den "Sitten und Werten" der alten "Weimarer Bewegung", von denen auch Willy Brandt, dessen letzte Ehefrau Seebacher ab 1983 war, geprägt gewesen sei, erzählten ihr die alten Sozialdemokraten (7). Ihr Buch ist daher nicht nur eine wissenschaftlich-historische Betrachtung der Sozialdemokratie, sondern auch Spiegel eigener Erfahrungen und Deutungen einer Parteigeschichte, die sie zum Teil selbst erlebt hat.

In seinem chronologischen Aufbau orientiert sich das Buch an der klassischen Struktur einer Überblicksdarstellung. Einen ersten Schwerpunkt stellen die Gründungen der SPD-Vorläuferparteien durch Ferdinand Lassalle sowie Wilhelm Liebknecht und August Bebel und die Unterdrückung der fusionierten Gesamtpartei im Kaiserreich dar (I). Das nächste Kapitel spannt einen besonders langen Bogen, vom Auslaufen des Sozialistengesetzes 1890 über die SPD in der Weimarer Republik und ihre Verfolgung im 'Dritten Reich' bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit (II). Die 1950er und 1960er Jahre werden als Zeit der "Häutung einer Arbeiterpartei" und Entwicklung hin zu einer "Volks- und Regierungspartei" untersucht (III). In Kapitel IV, das mit der Zeit der Großen Koalition seit 1966 beginnt, fallen der "Eroberungszug" und das "Ende der Arbeiterbewegung" zusammen - diese ambivalente Parallelität ist ein wiederkehrendes Hauptmotiv des Buches. Auf die "[g]lückliche Fügung" des ersten sozial-liberalen Kabinetts (V) folgen die "Machtspiele" zwischen der Bundestagswahl 1972 und dem Sturz Helmut Schmidts 1982 (VI). Bevor sich ein abschließender Epilog mit der Parteigeschichte seit den 1980er Jahren beschäftigt, rekapituliert Kapitel VII die Nachkriegsentwicklungen in anderen europäischen Ländern.

Diese Internationalität zieht sich auch durch die Kapitel, deren Fokus primär auf Deutschland liegt. Sie hebt das Buch positiv von den meisten anderen Überblickswerken ab. Durch die regelmäßigen und ausführlichen Exkurse zu den Entwicklungen in Frankreich und Großbritannien werden die jeweiligen nationalen Spezifika verständlicher, vor allem die verzögerte Akzeptanz der deutschen Sozialdemokratie als staatstragende Kraft. In den Abschnitten zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommen weitere Länder hinzu, insbesondere Schweden und Österreich.

Aus mehreren Gründen erzeugt die Lektüre des Buches dennoch Irritationen. Im Zentrum steht die Analyse der Sozialdemokratie als Parteiorganisation und ihrer führenden Persönlichkeiten. Verbunden mit einer unübersehbaren Sympathie für regierungsaffine Parteiströmungen führt dies dazu, dass intellektuelle Entwicklungen außerhalb des engeren Organisationsrahmens weniger ausführlich behandelt und darüber hinaus geringgeschätzt werden. Karl Marx beispielsweise charakterisiert Seebacher als realitätsfremden "Buchgelehrten" (76). Von solch spöttisch-abschätzigen Urteilen werden alle Akteurinnnen und Akteure getroffen, die aus Seebachers Sicht nicht machtbewusst und pragmatisch genug gehandelt hatten. Friedrich Ebert beispielsweise, immerhin das erste demokratisch legitimierte Staatsoberhaupt in der deutschen Geschichte, dachte "[ü]ber die Demokratie [...] so wenig nach wie die Partei, die ihn geprägt hatte" (208). Erich Ollenhauer "führte die SPD [...], ohne dass ihm das Wort von der Macht auch nur in den Sinn gekommen wäre" (287). In solchen Urteilen wird über die historischen Akteure mehr retrospektiv gerichtet als ihr Handeln im zeitgenössischen Kontext analysiert.

Zum anderen zeigt sich in der Gewichtung der verschiedenen Zeitabschnitte eine deutliche Unwucht. Die 13 Jahre der sozial-liberalen Koalition ab 1969 bilden den eindeutigen Flucht- und Schwerpunkt der Erzählung. Sie nehmen 165 der insgesamt 632 Textseiten ein, hinzu kommen vorgelagerte Portraits der wichtigsten Protagonisten. Die jeweiligen Charakterisierungen Willy Brandts als "[i]nnerlich frei" (358), Helmut Schmidts als "[d]er Soldat" (353) und Herbert Wehners als "[d]er Kommunist" (347) lassen kaum mehr Zweifel zu, wem ihre persönlichen Sympathien und Abneigungen gelten. Überdimensioniert und kaum mehr wissenschaftlich begründbar ist vor allem der Aufwand, mit dem Seebacher sich an Herbert Wehner abarbeitet. Diesen beschuldigt die Autorin durchgehend - nicht nur im Zusammenhang mit dem Rücktritt Willy Brandts 1974 [1] -, als "langer Arm" (436) Moskaus und Ost-Berlins im sowjetischen Sinne in die deutsche Regierungspolitik eingegriffen zu haben.

Der Epilog, der die gesamte Zeit nach 1982 abhandelt, umfasst lediglich 21 Seiten. Diese Vernachlässigung der jüngeren Parteigeschichte gründet in der leitenden These, dass sich die Sozialdemokratie bereits seit den 1970er Jahren vergeblich abgemüht habe, ihren "Niedergang auf[zu]halten oder gar um[zu]kehren" (8). Angesichts der seit 1972 kontinuierlich schlechter werdenden Wahlergebnisse ist diese Niedergangsperspektive für eine SPD-Gesamtdarstellung zwar nicht untypisch. Auffällig ist jedoch Seebachers absolute Gleichsetzung von "Arbeiterbewegung" und "Sozialdemokratie". Deren Ende erklärt Seebacher mit der seit den 1960er Jahren erkennbaren Auflösung kollektiver, im Wert der Arbeit begründeter Bindungen und Identitäten (615-616). Dass Seebacher die Sozialdemokratie als Parteiorganisation so starr mit dem historischen Phänomen der Arbeiterschaft als soziale Bewegung identifiziert, bewirkt allerdings, dass der sich anschließend fundamental wandelnde politische, soziale und ökonomische Kontext als Ursache eines vermeintlich unausweichlichen Niedergangs nur noch konstatiert wird. Dabei ist es doch erklärungsbedürftig und eine Analyse wert, warum die SPD trotz des Verlustes von Milieu und Klientel als relevante Parteiorganisation erhalten geblieben ist. Die Geschichtswissenschaft hat sich diesen Fragen in letzter Zeit gestellt [2], worauf das Buch aber keinen Bezug nimmt. Es ist schade, dass Seebacher große Teile der mittlerweile reichhaltigen Forschung zur SPD nach der sozial-liberalen Koalition nicht berücksichtigt. [3] Diesbezüglich wäre ein intensiveres Lektorat wünschenswert gewesen. Ein solches hätte auch dazu beitragen können, den Text von einigen irritierenden Formulierungen zu befreien. So stieß beispielsweise die Charakterisierung Rosa Luxemburgs als "polnische Jüdin", die sich durch "den hochmütige[n] Ton [auszeichnete], dessen sich die Neuankömmlinge aus dem Osten bedienten", auch schon vor dem 7. Oktober 2023 unangenehm auf (168).

Letztlich ist es ratsam, das Buch weniger als erschöpfende Gesamtdarstellung der Sozialdemokratie zu verstehen denn als essayistischen Kommentar zur Parteigeschichte. Für Historikerinnen und Historiker ist das Buch durchaus lehrreich - nämlich dann, wenn man es als Quelle der sozialdemokratischen Traditions- und Identitätsbildung liest und als Beleg für den hohen Stellenwert, den die Deutung der eigenen Geschichte in innerparteilichen Richtungsdebatten bis heute einnimmt. Brigitte Seebacher interpretiert diese Geschichte durch die Brille einer konservativen Sozialdemokratin, die die SPD immer dann am stärksten wähnt, wenn sie pragmatisch und machtbewusst agierte und regierte. Möglicherweise lässt sich dies auch als Reaktion auf im SPD-Umfeld immer wieder zu lesende, aktuelle Forderungen verstehen, die programmatisch ausgezehrte Partei müsse wieder "mehr Profil" zeigen. Sollte damit eine "linkere" Sozialdemokratie gemeint sein, würde die Autorin dem vermutlich widersprechen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Brigitte Seebacher: Willy Brandt, München 2004, 237-239.

[2] Dietmar Süß: Der seltsame Sieg. Das Comeback der SPD und was es für Deutschland bedeutet, München 2022.

[3] U.a. Sebastian Nawrat: Agenda 2010 - ein Überraschungscoup? Kontinuität und Wandel in den wirtschafts- und sozialpolitischen Programmdebatten der SPD seit 1982, Bonn 2012; Elke Seefried: Partei der Zukunft? Der Wandel des Fortschrittsverständnisses der SPD 1960-2000, in: Fernando Esposito (Hg.): Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen / Bristol 2017, 193-225; Oliver Nachtwey: Marktsozialdemokratie. Die Transformation von SPD und Labour Party, Wiesbaden 2009.

Felix Lieb