Oliver von Wrochem (Hg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie (= Reihe Neuengammer Kolloquien; Bd. 6), Berlin: Metropol 2016, 535 S., eine DVD, zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-277-0, EUR 24,00
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Was heißt es für Kinder und Enkel, wenn (um den bekannten Titel aufzugreifen) Opa eben doch ein Nazi war? [1] Mit welchen Gefühlen müssen die Nachkommen von Tätern umgehen? Und was ist eigentlich ein NS-Täter?
Nach dem Aufschwung der Täterforschung und wachsendem Interesse an Täterorten wie der Wewelsburg oder dem Obersalzberg rücken seit einigen Jahren auch die Nachkommen der Täter in den Fokus. Immer häufiger sprechen Angehörige öffentlich über ihre familiären Abgründe. Mit dieser Form von "Nachlass" beschäftigte sich im Herbst 2018 sogar ein Dokumentarfilm im Kino. [2] Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bietet schon seit 2009 Rechercheseminare für die Kinder und Enkelinnen und Enkel von Tätern oder Menschen an, die Täterschaft in der Familie vermuten.
Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis dieser Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Täterschaft in der Familie nach 1945. In 34 Beiträgen und einer DVD mit zehn Filmporträts präsentiert das Buch die Ergebnisse zweier Tagungen aus dem Jahr 2013. [3] Die Grundthese lautet, dass "das öffentliche, gesellschaftliche und das familiale Erinnern an den Nationalsozialismus [...] in einem Wechselverhältnis zueinander" stehen und dass "nicht selten [...] wissenschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Formen der Auseinandersetzung mit Täterschaft mit familiengeschichtlichen Dimensionen verflochten" (11) sind. Die ersten drei Kapitel resümieren den wissenschaftlichen Ertrag der Konferenzen in Beiträgen zu nationalsozialistischer Täterschaft in Forschung und Gesellschaft, Bildungsarbeit, Literatur, Film und Erinnerungsgemeinschaften. In den letzten beiden Kapiteln reflektieren Kinder und Enkel von NS-Tätern die biographischen Folgen von Täterschaft. Diese Kapitel ergänzen und vertiefen Jürgen Kinter und Oliver von Wrochem durch ihre filmischen Porträts.
In seiner Übersicht über aktuellen Stand der Täterforschung diskutiert Frank Bajohr (München), ob und wie Täter und Gesellschaft überhaupt voneinander abgegrenzt werden können. Er warnt, dass Täterforschung allein keinen simplen Königsweg zur Erklärung der NS-Verbrechen liefert, da isolierte und teleologisch zugespitzte Tätergeschichten in ihrer Monokausalität leicht ins Leere laufen. Der Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte weist auf den problematischen Trend hin, den "Täterbegriff inflationär" anzuwenden - was nach Ansicht des Rezensenten in einigen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes durchaus geschieht. Auch Herausgeber Oliver von Wrochem (Neuengamme) wirft in seinem Beitrag über die Bildungsarbeit an Gedenkstätten die zentrale Frage auf, was überhaupt Täterschaft ist. In den einzelnen Beiträgen wird leider keine einheitliche Täterdefinition angewandt, da "stark von der Perspektive des Urteilenden" abhänge, "was eine verbrecherische Tat ist, wer Täter oder Täterin ist und wer nicht". (137)
Wie sich Täterbilder wandeln, untersuchen Gerhard Paul (Flensburg) und Thomas Kühne (Worcester, Mass.). Paul zeigt in seiner anregenden Analyse der visuellen Konstruktionen in Fotografien und bildender Kunst, dass dämonische, kriminalpathologisch gedeutete Fotografien (etwa Adolf Eichmanns oder des Euthanasietäters Werner Heyde) ein gesellschaftliches Exkulpationsbedürfnis erfüllten. Eichmann dagegen nutzte die Bilder aus seinem Prozess zur Selbstinszenierung als banaler Bürokrat, der Medien, Historiker und vor allem Hannah Arendt aufsaßen. Kühne untersucht dämonisierende und viktimisierende Bilder von nationalsozialistischen Gewalttätern in der deutschen Gesellschaft und Forschung nach 1945. Er betont, dass intentionalistische und strukturalistische Diskurse es gleichermaßen ermöglichten, Fragen nach Schuld und Verantwortung von Familienangehörigen "in der Rumpelkammer zu belassen".
Mit ihren Überlegungen zur Repräsentation weiblicher Täterschaft in Wissenschaft und Gesellschaft nimmt Elisa Mailänder (Paris) einen blinden Fleck in den Fokus. Obwohl die "überwältigende Mehrheit der [deutschen] Frauen zwischen 19 und 40 Jahren am NS-Kriegsregime beteiligt" war, scheint es in der medialen Darstellung des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges immer noch keine Täterinnen, sondern nur Märtyrerinnen geben zu dürfen. (88)
Im vierten Teil setzen sich Angehörige in sehr heterogenen Beiträgen mit der unterschiedlichen Täterschaft, Belastung und Schuld von Familienangehörigen auseinander. Dem Rezensenten waren einzelne Reflexionen über die Familienverhältnisse der Autorinnen und Autoren bei begrenztem Erkenntnisgewinn zu privat, zudem nicht bei allen Beiträgen klar wurde, was in den Augen der Nachkommen den jeweiligen Angehörigen konkret zum Täter macht. Vereinzelt wird hier Täterschaft mehr gefühlt als nachgewiesen. Aus familientherapeutischer Perspektive ist das verständlich, aus der des Historikers aber problematisch.
Symptomatisch dafür steht die Erklärung einer Tochter, dass für sie ihre "fast obsessive [...] Unermüdlichkeit" und ihr "Nachforschen und Nachdenken [über die Geschichte des Vaters] vor allem [...] eine Art Selbstvergewisserung" (320) seien. Wie stark viele Nachkommen mit der Bewältigung der eigenen familiären Geschichte ringen, zeigen die Interviews auf der DVD eindrucksvoll. Zurecht weist Horst Ohde auf den berühmten Satz William Faulkners hin, dass das Vergangene nicht tot, sondern noch nicht einmal vergangen sei. Angewandt auf die Familiengeschichte und damit auf das eigene Leben hat das zweifelsohne eine besondere Brisanz. So bilanziert eine Enkelin: "Ich habe nichts 'bewältigt'. Dieses Thema wird mich bis an mein Lebensende nicht loslassen." (467)
Die Reihe der Neuengammer Kolloquien richtet sich an ein Fachpublikum. Offenbar wendet sich der vorliegende Band aber auch an nichtwissenschaftliche Leser. Einerseits ist es ein anregendes Konzept, familienbiographische neben wissenschaftliche Annäherungen zu stellen. Andererseits entsteht durch den nicht immer gelungenen Brückenschlag zwischen geschichtswissenschaftlicher Analyse und familientherapeutischer Aufarbeitung aber ein inhomogenes Buch. Es zeigt sich, dass die objektive Einordnung einer Belastung, an der sich ein Historiker versucht, nicht immer damit korrespondiert, was Nachkommen emotional als Täterschaft wahrnehmen mögen. Auch wenn es unredlich wäre, Grundsätze geschichtswissenschaftlicher Methodik an die Beiträge der Nachkommen anzulegen, wären einige Widersprüche und Unsicherheiten und vor allem Fehlinterpretationen von Quellen durch fachhistorischen Rat vermeidbar gewesen. Wenn etwa eine Angehörige den militärischen Begriff der "Säuberung" als unzweifelhaften Beleg für ein Verbrechen interpretiert, beweist das eher eine kognitive Verzerrung als eine eindeutige Belastung. (402 und DVD)
Streckenweise hätte das Buch ein sorgfältigeres Lektorat verdient gehabt. Leider wurde am Apparat gespart, ein Namensregister, aber auch ein gemeinsames Quellen- und Literaturverzeichnis aller Beiträge fehlen. Die im Untertitel angekündigten "Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie" finden sich überwiegend in der Familie, die Gesellschaft kommt insgesamt weniger vor, als zu erwarten gewesen wäre.
Insgesamt dennoch ein verdienstvolles und wichtiges Buch - es ist zum einen Bilanz einer umfangreichen Forschungstätigkeit, zum anderen gerade in seinem nicht fachhistorischen Teil eindrucksvoller Beleg für die gesellschaftspolitische Relevanz der Gedenkstätten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall: "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.
[2] Nachlass, Dokumentarfilm von Gabriele Voss und Christoph Hübner, Kinostart 27.09.2018.
[3] Tagungsbericht: Der Umgang mit nationalsozialistischer Täterschaft in Familien von Täter/innen und NS-Verfolgten sowie in der Gesellschaft von 1945 bis heute, 05.12.2013 - 07.12.2013 Hamburg, in: H-Soz-Kult, 01.04.2014, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5306.
Niels Weise