Julia Zech: Reformation als Herausforderung. Konflikte und Alltag des Superintendenten Jacob Jovius im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel 1569-1585 (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens; Bd. 50), Göttingen: V&R unipress 2018, 494 S., eine CD-ROM, 20 s/w-Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-8471-0821-4, EUR 70,00
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Das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel war das letzte der welfischen Territorien, in dem sich die Reformation durchsetzte. Dies geschah nach dem Tod des altgläubigen Herzogs Heinrich d. J. 1568 und dem Regierungsantritt seines Sohnes Julius. Grundlage für den Aufbau der evangelischen Landeskirche war die Kirchenordnung von 1569; sie legte deren hierarchische Struktur mit der Einrichtung des Konsistoriums und den Ämtern der Generalsuperintendenten und Superintendenten fest. Den Superintendenten kam als Mittelinstanz zwischen dem kirchenleitenden Konsistorium und der lokalen Ebene der Pfarreien bei der Durchsetzung der Kirchenordnung und der Implementierung des reformatorischen Glaubens entscheidende Bedeutung zu. Zu ihren Aufgaben gehörten Visitationen, die Dienstaufsicht über Pfarrer, Küster und Lehrer, die Mitwirkung bei der Kirchen- und Ehegerichtsbarkeit sowie die Kontrolle von Sitten- und Kirchenzuchtangelegenheiten. Außerdem hatten sie die landesherrlichen Mandate zu verbreiten und deren Befolgung zu überwachen.
In ihrer Dissertation, die von Arnd Reitemeier betreut und 2016 von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen angenommen wurde, stellt Julia Zech das Wirken und die Lebens- und Arbeitsbedingungen Jacob Jovius', des ersten lutherischen Superintendenten der Inspektion Halle im Weserbergland, dar. Jovius war um 1535 in Flarichsmühle bei Nordhausen geboren worden und hatte nach seinem Studium in Jena die Rektorenstelle der Schule in Northeim übernommen; hier heiratete er Margarethe Cloth; aus der Ehe gingen vier Töchter und zwei Söhne hervor. Vom Mindener Bischof Hermann von Holstein-Schaumburg als zuständigem Kollator wurde er als Kandidat für das Amt des Superintendenten und Pfarrers in Halle vorgeschlagen und am 18. Mai 1569 für diese Stelle ordiniert. Er starb am 26. Februar 1585. Über seine theologischen Ansichten sind keine dezidierten Aussagen möglich; sein Studium an der Universität Jena lässt eine streng lutherische Prägung vermuten.
Die hauptsächliche Quellengrundlage der Dissertation sind drei von Jovius während seiner Amtszeit als Superintendent erstellte Handschriften, die im Pfarrarchiv der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Halle, Landkreis Holzminden, deponiert sind; die Schriftstücke sind in deutscher und lateinischer Sprache verfasst. Während die erste Handschrift vornehmlich Rechnungen sowie Verzeichnisse der Ländereien und der Schuldner der Haller Pfarrei enthält, sind die beiden anderen Konzeptbücher mit 668 Entwürfen privater und amtlicher Schreiben an Familienangehörige und Freunde, Pastoren der Inspektion sowie an weltliche und geistliche Amtsträger, darunter 151 Briefe und 483 Aktenstücke, die von der Verfasserin umsichtig ausgewertet werden.
In fünf Bereichen, die sie als "Konfliktfelder" bezeichnet, untersucht die Verfasserin das Wirken und die Lebensumstände des Haller Superintendenten. Diese Schwerpunkte sind Familie, Freunde, die Pfarrgemeinde sowie die geistlichen und die weltlichen Amtsträger. Besonders aufschlussreich sind die Ausführungen über Jovius' Familienleben und sein Verhältnis zur Gemeinde. Der Superintendent, dessen Familie in der dörflichen Gemeinschaft von Halle als neuzugezogen anscheinend ziemlich isoliert lebte, erscheint als treusorgender Vater, der seinen Kindern eine gute Ausbildung durch Hauslehrer zukommen ließ und sie nach seinem Tod versorgt wissen wollte. Leider ist aus den Quellen kein konkretes Bildungskonzept erkennbar. Ebenso fehlen Aussagen über die Tätigkeit der Ehefrau, insbesondere über ihre Einbeziehung in die Amtsaufgaben des Superintendenten und Pfarrers.
Die Anwesenheit eines Pfarrers mit angetrauter Ehefrau und legitimen Kindern erwies sich als ein deutlicher Unterschied zum zölibatären Priester der vorreformatorischen Zeit. Dies wurde von der Gemeinde wahrgenommen und war Anlass für eine Reihe meist ökonomischer Konflikte. Das mittelalterliche Pfründenwesen stellte immer noch die Einkommensgrundlage der Pfarrer dar. Um seine Familie versorgen zu können, war der evangelische Ortsgeistliche auf eine ausreichende Besoldung durch die Gemeindemitglieder angewiesen, von denen etliche eine nachlässige und widerwillige Zahlungsmoral übten. Klagen seitens der Gemeinde und der Alterleute entstanden u. a. wegen der finanziellen Belastung infolge der Instandhaltung des Pfarrhauses und seiner durch die Aufnahme einer Pastorenfamilie notwendig gewordenen Vergrößerung. Die obrigkeitlichen Mandate verhalfen dem Pastor nur bedingt zu seinem Recht. Die Verfasserin weist darauf hin, dass die Abendmahls- und Gottesdienstverweigerer der Gemeinde auch in anderen Bereichen, wie die Besoldung des Pfarrers, erhebliche Konfliktbereitschaft zeigten; jedoch ist die Quellenlage nicht dicht genug, um der Frage nachzugehen, inwieweit sich die Streitigkeiten zwischen Pfarrer und Gemeindemitgliedern auf die Seelsorge und das religiöse Leben auswirkten.
Als Superintendent übte Jovius eine Kontrollfunktion über die ihm untergeordneten Pastoren und Küster seiner Inspektion aus. Dies tat er durch Besuche und Rundschreiben, aber auch durch Pfarrkolloquien; er war "einer der wenigen Superintendenten, für den diese Form der Versammlung zur Besprechung von theologischen Inhalten nachweisbar ist" (235). Konflikte mit seinen Mitbrüdern entstanden u. a. im Zusammenhang mit der Einführung des neuen Versorgungssystems der Witwen- und Waisenkasse, aus der die Hinterbliebenen eines verstorbenen Geistlichen Unterhalt empfingen. Jovius war für den reibungslosen Ablauf der Einzahlungen zuständig, während sich etliche Pastoren bei ihren Abgaben äußerst nachlässig zeigten.
Vor allem bei der Visitation, der Prüfung der Kirchenrechnungen und der Exekution von Strafen war der Superintendent auf die Zusammenarbeit mit dem Vertreter der weltlichen Administration, dem Amtmann, angewiesen. Nach anfänglichen Stockungen verlief diese Kooperation seit der Mitte der 1570er Jahre in Jovius' Sprengel weitgehend routiniert und war ein Zeichen dafür, dass die Institutionalisierung der Reformation bis auf die Amtsebene vorgedrungen war.
Julia Zech legt eine gut lesbare, aufschlussreiche und verdienstvolle Untersuchung über die alltäglichen Schwierigkeiten und Konflikte eines Superintendenten bei der Einführung der Reformation vor. Aufschlussreiche und detaillierte Einblicke in die familiären, geistlichen, politischen sowie ökonomischen Aufgaben und Lebensumstände eines kirchlichen Funktionärs der mittleren Ebene werden vermittelt. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Quellengrundlage, die Konzeptbücher, nur von begrenztem Aussagewert ist. Etliche für die Einführung der Reformation relevante Fragen können nicht beantwortet werden; so bleibt der eigentliche innerkirchliche Bereich, die konkrete Durchführung der Seelsorge, die liturgischen Handlungen, die Predigtinhalte und die Vermittlung der Lehre, weitgehend ausgeblendet. Deshalb verspricht der Titel der Untersuchung, "Reformation als Herausforderung", mehr, als er einlösen kann.
Hans-Georg Aschoff