Alexander Sedlmaier: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik, Berlin: Suhrkamp 2018, 263 S., ISBN 978-3-518-42774-3, EUR 32,00
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Im Jahr 2018 kamen "50 Jahre danach" mehr als 50 Bücher zu "1968" allein in Deutschland auf den Markt. Das Werk Alexander Sedlmaiers, seit 2007 Hochschullehrer an der Universität Bangor in Wales und gegenwärtig Marie Curie Fellow am Institut für Soziale Bewegungen in Bochum, gehört trotz des Titels und Untertitels nicht in die Kategorie der Jubiläumsschriften. Die englische Originalausgabe erschien 2014 [1], bereits zuvor war eine Reihe einschlägiger Aufsätze auf Deutsch zu lesen [2]. Gleichwohl ist eine ausführliche Darstellung für den hiesigen Leserkreis begrüßenswert, zum einen wegen der vernachlässigten Thematik, die auf Deutschland rekurriert, zum anderen wegen des originellen Ansatzes, der in vielen eher konventionellen Texten unberücksichtigt bleibt.
Der Autor will die Wechselwirkung zwischen Konsum und Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland ermitteln. Zentral ist für ihn dabei der Begriff "Versorgungsregime", den er definiert "als das Netzwerk der Aktivitäten, die den Konsum mit den Machtverhältnissen verbinden, die ihn ermöglichen und gleichzeitig andere Formen von Konsum und Produktion verhindern" (22). Sedlmaier zielt dabei auf Aktivitäten der radikalen Linken im Zeitraum von Ende der 1950er bis Ende der 1980er Jahre, also auf die Phase des Ost-West-Konflikts.
Die übersichtlich gegliederte, mit 28 Abbildungen angereicherte Arbeit umfasst neben Einleitung und Schluss sieben Kapitel, die jeweils zwei Bereiche zusammenführen: auf der einen Seite manifeste oder symbolische Gewaltakte, auf der anderen Seite politische Ideen, die solche Vorgänge reflektierten. Sedlmaier fragt nach den Zusammenhängen von Versorgungsregime und politischem Protest, nach dessen Gründen, ferner nach der Wechselwirkung zwischen intellektueller Kritik, militanter Praxis und der Handhabe des staatlichen Gewaltmonopols. Die ersten drei Kapitel erörtern die Brandanschläge auf Frankfurter Kaufhäuser 1968 (die erste militante Aktion, die nicht in Verbindung mit dem Demonstrationsgeschehen stand), Herberts Marcuses Verständnis von Konsum und Gewalt, ferner die Brandanschläge der Tupamaros 1969 in Berlin (West), die teils mörderischen Aktionen der RAF, der 'Bewegung 2. Juni' sowie der Autonomen; Kapitel vier bis sechs beziehen die Proteste gegen den öffentlichen Nahverkehr ein, die Anti-Springer-Kampagne und die Hausbesetzerbewegung. Das siebte Kapitel berücksichtigt die internationale Dimension, etwa Boykotte gegen multinationale Konzerne und Proteste gegen den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. Die beträchtliche Bandbreite der Aktionen - von Mord bis zur Blockierung des Straßenverkehrs - ist so verdeutlicht. Der Autor will die Motive ernstgenommen sehen und nicht als unpolitische Randale auffassen. Aber lag - beispielsweise - den propagierten Diebstählen innerhalb der "Szene" wirklich immer ein politisches, anti-kommerzielles Motiv zugrunde?
Sedlmaier gelingt es, das große Ausmaß an Konsumkritik bei den Protestlern ebenso zu erhellen wie die Interaktionsdynamik. Er stellt konsumkritische, militante Formen des Aufruhrs mit großer Empathie dar, ohne sie deswegen zu rechtfertigen. Im Grunde wurde das marxistische Ideengebäude durch die Haltung der Linksradikalen auf den Kopf gestellt. Denn nach Marx sollte der Kapitalismus durch seine Verelendung ans Ende gelangen. Im Verständnis von Herbert Marcuse steht angesichts der manipulativen ökonomischen Kraft nicht mehr die Produktionssphäre im Vordergrund, sondern die Konsumsphäre - verabscheuungswürdig ist gerade der bei den Menschen falsche Bedürfnisse hervorrufende "Konsumterror". Bernd Rabehl, enger Vertrauter Rudi Dutschkes, spricht gar von "Konsumfaschismus" (33, 89).
Bei heiklen Problemen weicht Sedlmaier zuweilen mit einem lakonischen, nicht falschen, aber unvollständigen Satz aus: "Ulrike Meinhof wurde im Mai 1976 tot in ihrer Zelle gefunden." (139) Hingegen erfährt die staatliche Seite keine immanente Sichtweise. So heißt es etwa: "Eine 1987 als Reaktion auf die Mai-Krawalle gegründete Sondereinheit der West-Berliner Polizei, die Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training, erwarb sich einen Ruf für besonderes Vorgehen bei Demonstrationen." (392) Bei wem? Zuweilen kommt in der Bewertung der Aktionen der militanten Kräfte und des Staatsgebarens eine Art Äquidistanz bei der Eskalation der Gewalt zur Sprache. "Die jeweils andere Seite wurde als Bande bloßer Krimineller dargestellt, die aus unrechtmäßigen Kanälen Profit schöpften. Beide Seiten waren bestrebt, den Aktionen der jeweils anderen Seite den politischen Charakter und damit die Legitimität abzusprechen." (388) Auch wer polizeiliche Überreaktionen und Schattenseiten der Wohlstandsgesellschaft nicht bestreitet, dürfte dieser Perspektive die Plausibilität absprechen. Die Feindbilder bei den Aktivisten bestanden im Kern wohl schon vorher, gediehen nicht erst durch staatliche Überreaktionen.
Die Kehrseite des Vorteils der klaren zeitlichen Eingrenzung ist die marginale Rolle der historischen Dimension, gibt es doch weder einen ausführlichen Rückblick (etwa zur konservativen Kulturkritik) noch einen Ausblick. Für die Ursachen und die Folgen der gewalttätigen Konsumkritik im Zeitalter des Ost-West-Konflikts wären solche Überlegungen von Relevanz gewesen. Schließlich bildete sich bei den ostdeutschen Bürgerrechtlern Anti-Konsumismus heraus, während in den 1980er Jahren im Westen die Kritik bei den Grünen zunehmend nicht mehr auf den Staat zielte, sondern ökologisch inspiriert war. Nur knapp ist davon die Rede. Die Eingrenzung auf die Phase des Ost-West-Konflikts dürfte ohnehin nicht ganz schlüssig sein, da die Positionen der Neuen Linken, die den westdeutschen Kapitalismus militant herausforderten, sich keineswegs mit denen des SED-Regimes deckten, mag auch die Bevölkerung diesen Eindruck zuweilen gehabt haben.
Selbst wer manche Positionen nicht teilt, etwa den diffusen Terminus des "Versorgungsregimes" oder die an Marcuse orientierte Entgrenzung des Gewaltbegriffs, mit dem dann die eine wie die andere Seite erfasst wird, profitiert von dieser theoretisch und methodisch anspruchsvollen Arbeit. Zudem erschließt der Autor eine Vielzahl unbekannter Quellen aus dem linksalternativen Milieu - zur Kritik an den "Luxustempeln" des Kapitalismus, etwa von Ulrike Meinhof, der 'Bewegung 2. Juni', den 'Revolutionären Zellen' und von Autonomen. Eine spezifische Form der Kapitalismuskritik war oft Stein des Anstoßes, löste Aufbegehren aus. Dieser Aspekt kam bisher so nicht zur Geltung. Da die Studie sich auf Deutschland konzentriert, wäre eine Analyse zu anderen westlichen Ländern nützlich. Für Sedlmaier jedenfalls deutet das Material "nicht auf einen deutschen Sonderweg der Radikalisierung hin" (405).
Anmerkungen:
[1] Vgl. Alexander Sedlmaier: Consumption and Violence. Radical Protest in Cold-War West Germany, Ann Arbor 2014.
[2] Vgl. beispielsweise Alexander Sedlmaier: Konsumkritik und politische Gewalt in der linksalternativen Szene der siebziger Jahre, in: Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hgg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010, 185-205; ders. / Stephan Malinowski: "1968" als Katalysator der Konsumgesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaptionen und ihre gegenseitigen Durchdringungen, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), 238-267.
Eckhard Jesse