Florian Grafl: Terroristas, Pistoleros, Atracadores. Akteure, Praktiken und Topographien kollektiver Gewalt in Barcelona während der Zwischenkriegszeit 1918-1936, Göttingen: V&R unipress 2017, 354 S., 14 Farb-, 59 s/w-Abb., 5 Tabl., ISBN 978-3-8471-0770-5, EUR 55,00
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Andrew Dowling: Catalonia since the Spanish Civil War. Reconstructing the Nation, Brighton: Sussex Academic Press 2013
Julián Casanova: A Short History of the Spanish Civil War, London / New York: I.B.Tauris 2013
Als in Mitteleuropa der Erste Weltkrieg zu Ende ging, begann in dem neutral gebliebenen Spanien und speziell in der katalanischen Metropole Barcelona eine Welle von Gewalt, die zwar nicht direkt bürgerkriegsähnliche Züge mit den damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Verwerfungen von solchem Ausmaß annahm, wie sie die Verliererstaaten mit ihren auseinanderfallenden Armeen erlebten. Doch kostete auch sie zahlreiche Todesopfer zumeist durch Attentate oder Raubüberfälle. Dieser "Gewaltraum" entwickelte sich vor dem Hintergrund großer Streikbewegungen und heftiger politischer Konflikte und festigte den in den zwei Jahrzehnten zuvor durch anarchistische Bombenattentate und vor allem durch den Aufruhr während der "tragischen Woche" des Jahres 1909 erworbenen Ruf Barcelonas als "Hauptstadt des Anarchismus".
Die Stadt war zu einem Zentrum der anarchosyndikalistischen Arbeiterbewegung in Gestalt der 1910 gegründete Gewerkschaftszentrale CNT (Confederación Nacional del Trabajo) geworden. Ihr standen der Staat und die Unternehmer gegenüber, wobei das Bild durch das Auftreten eines weiteren Akteurs, des mehr bürgerlich geprägten katalanischen Nationalismus im Konflikt mit dem spanischen Zentralstaat, verkompliziert wurde. Bei diesen mit zunehmender Härte ausgetragenen Konflikten schreckte auch der Staat nicht vor dem Einsatz "außergesetzlicher Maßnahmen" zurück. Das alles hat schon lange den Stoff nicht nur für zahlreiche historische Arbeiten gegeben, zuletzt vom mexikanischen Historiker Paco Ignacio Taibo II ("Que sean fuego las estrellas", Mexico / Barcelona 2016), und ist vielleicht noch häufiger künstlerisch dargestellt worden. Man denke nur an Eduardo Mendozas Erstlingsroman "Der Fall Savolta" von 1975 oder jüngst an den Film von Dani de la Torre "La sombra de la ley" (bzw. mit dem an einen Western erinnernden englischen Titel "Gun City" mit weltweiter Verbreitung auf Netflix).
Das alles hat das Bild des historischen Barcelona (von vor dem Sieg Francos 1939) als "Stadt der Bomben" geprägt. Dabei stehen traditionell die Ursachenerforschung, die Kausalitäten, der Ablauf und die Verknüpfungen der Konflikte sowie die Akteure mit ihren Motiven im Vordergrund. Das gilt insbesondere für die Protagonisten, die gewerkschaftlichen Führungsfiguren, ebenso wie die auf staatlicher bzw. Unternehmerseite Handelnden, aber auch für die Pistoleros der verschiedenen Lager.
In dieser auf eine Dissertation zurückgehenden Arbeit, die im Rahmen einer DFG-Forschergruppe an der Universität Gießen über Gewaltgemeinschaften entstanden ist, geht es jedoch im Sinne der neuen Gewaltforschung um ihre "Kartierung", um ihre topographische Einordnung in einen großstädtischen Raum, eben den Barcelonas, um die Bestimmung der Formen und Dynamiken der Gewalt und schließlich um die Gewaltakteure und ihre soziale Einordnung, letztlich also um all das, womit sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt konfrontiert sahen. Mehrfach betont der Autor ausdrücklich, dass es ihm eben nicht um eine historische Aufarbeitung der Ursachen und der Darstellung der Verantwortungsketten gehe (z. B. 39, 320). Damit treten einzelne herausragende Personen eher in den Hintergrund zugunsten von Kollektivporträts der Trägergruppen bestimmter Gewaltformen, auch wenn das nicht vollständig durchgehalten werden kann angesichts direkter individueller Verantwortlichkeiten oder wegen bestimmter Schlüsselereignisse. Hierdurch bleiben der politische und soziökonomische Kontext, wie z. B. die Folgen des Wirtschaftsabschwungs nach dem Ende der Kriegskonjunktur, ebenso weitgehend unbeleuchtet wie die politische Krise, wobei das katalanische Problem in Barcelona natürlich am brennendsten war. Das gilt für die Entwicklung des Anarchosyndikalismus mit seinen verschiedenen Strömungen vom radikalem Syndikalismus bis zu mehr zur "direkten Aktion" inklusive Terror neigenden Gruppierungen wie ebenso für seinen gewerkschaftlichen Gegner, die rechtsgerichteten "Sindicatos libres". Damit spielt auch die Unterscheidung zwischen "politischer" und "krimineller" Gewalt keine Rolle, denn hier geht es um jegliche Form "des Übergriffs auf den Körper eines anderen ohne dessen Zustimmung", wie Grafl die Definition von Jan Philipp Reemtsma zustimmend zitiert (25).
Die Quellenbasis für diese Untersuchung war nicht einfach zu finden, denn Gerichts- und Polizeiakten sind nur bruchstückhaft überliefert. So musste der Verfasser im Wesentlichen auf die Lokalzeitungen der Stadt trotz aller damit von ihm auch eingeräumten Probleme (30) zurückgreifen. Aus ca. 8000 Artikeln zu jeglicher Art von Gewaltereignissen von Anfang 1918 bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs im Juli 1936 entstand eine umfassende Datensammlung, die durch den systematischen Vergleich zwischen den verschiedenen Zeitungen validiert werden konnte.
Unterstützt durch zahlreiche Tabellen, Grafiken und Fotos kann Grafl somit ein detailgesättigtes Porträt der Gewaltlandschaft Barcelonas zeichnen, das die ungleichmäßige Verteilung der Gewaltereignisse über die Stadt, die unterschiedlichen Formen der Gewalt gegen Sachen wie Personen, den Einsatz der verschiedenen Kampfmittel - ob Bomben oder bestimmte Schusswaffen bei den verschiedenen Akteursgruppen - bis hin - im letzten Kapitel - zur ausführlichen Analyse der verschiedenen Gemeinschaften der Gewaltträger akribisch darlegt. Das so gezeichnete Bild ist jedenfalls viel komplexer als jenes, das sich aus der Reduktion auf den militanten Gegensatz von Gewerkschaftern und Staat plus Unternehmern ergibt, wie dies oft in den erwähnten literarischen Verarbeitungen geschehen ist. Herausgearbeitet werden fließende Übergänge, aber genauso Gegensätze zwischen dem anarchistischen Milieu, das sich keineswegs auf die immer auch unter "Reformismusverdacht" stehenden Gewerkschaften reduzieren lässt, und der "normalen Alltagskriminalität". Schwerpunkte der Untersuchung bilden die Jahre 1918 bis 1923, als die Errichtung der Primo de Rivera-Diktatur mit ihrer umfassenden Repression einen Einschnitt bewirkte, und dann die Jahre der zweiten Republik ab 1931, auch wenn hier die veränderten politischen Zusammenhänge andere Gewaltmanifestationen mit sich brachten.
Insgesamt handelt es sich um eine gründliche Untersuchung, die eine Art in Wort gefasstes Soziogramm der im Barcelona jener Jahre vorkommenden Gewaltelemente liefert. Wie alle solche Untersuchungen bietet die Studie ein präzises Bild davon und arbeitet damit auch die Wahrnehmung durch die Bevölkerung heraus. Sie ergänzt die vorliegende und überwiegend an anderen Prämissen ausgerichtete Forschungsliteratur. Die Kehrseite sind indes Leerstellen, die sich daraus ergeben, dass die Kausalitäten und die Einbettung in den gesamten politischen und sozialen Kontext allenfalls ein Randthema sind.
Reiner Tosstorff