Monika Fenn (Hg.): Frühes historisches Lernen. Projekte und Perspektiven empirischer Forschung (= Geschichtsunterricht erforschen; Bd. 7), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018, 325 S., 30 s/w-Abb., 20 Tbl., ISBN 978-3-7344-0575-4, EUR 29,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Monika Fenn / Maik Wienecke / Dirk Witt (Hgg.): Professionalisierung für das Unterrichten gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023
Monika Fenn / Christiane Kuller (Hgg.): Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016
Die Geschichtsdidaktik hat sich lange Zeit in ihrer Beschäftigung mit dem Geschichtsunterricht auf die Sekundarstufen I und II konzentriert (und hier vor allem auf das Gymnasium). Dies hat unter anderem mit der Tatsache zu tun, dass insbesondere dort ein institutionalisierter Geschichtsunterricht, in den allermeisten Fällen in eigenständiger, also disziplinär verantworteter Form stattfindet. Dass aber schon deutlich vor der weiterführenden Schule ein schulisch verantwortetes historisches Lernen stattfindet, wurde meist ignoriert. Allerdings sind die Rahmenbedingungen hierfür auch nicht unproblematisch: 'Geschichte' findet in der Grundschule, jedenfalls in Deutschland, nur innerhalb des außerordentlich vielfältigen Integrationsfaches 'Sachunterricht' statt, und die hierfür ausgebildeten beziehungsweise das Fach unterrichtenden Lehrkräfte sind in der Regel kaum oder gar nicht für historische Lernprozesse qualifiziert worden.
Diese Blindstelle der Geschichtsdidaktik ist in den letzten zwanzig Jahren erkannt worden. Seit Ende der 1990er Jahre ist eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, die sich auf die Theorie und Pragmatik des frühen historischen Lernens in der Grundschule konzentrieren und hier wertvolle Grundlagenarbeit leisteten. [1] Und auch der von der Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts verabschiedete 'Perspektivrahmen Sachunterricht' [2], der seitdem die Entwicklung zahlreicher Curricula in den Bundesländern geprägt hat, hat den Stellenwert historischen Lernens deutlich gestärkt.
Noch nicht ganz so intensiv ist dagegen die empirische Forschung vorangeschritten, obwohl in der Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren geradezu ein Boom empirischer Studien zu verzeichnen ist. Der 2009 gegründete Arbeitskreis 'Frühes historisches Lernen' der 'Konferenz für Geschichtsdidaktik', dem auch der Rezensent angehört, hat hier daher einen besonderen Schwerpunkt seiner Tätigkeit gelegt. 2015 fand in Potsdam eine erste Tagung statt, in der sich Forscher*innen aus unterschiedlichen Disziplinen (neben Geschichts- und Sachunterrichtsdidaktik auch unter anderem der Psychologie) zusammenfanden, um laufende oder abgeschlossene empirische Forschungsprojekte zu präsentieren und zu diskutieren. Drei Jahre später liegt jetzt erfreulicherweise der Sammelband mit den Beiträgen der Tagung vor - ein erster Aufschlag für eine dringend notwendige Verstärkung empirischer Zugänge.
Der Band enthält nach einer Einleitung der Arbeitskreisleiterin und Herausgeberin Monika Fenn insgesamt zwölf Beiträge sehr unterschiedlichen Charakters. Hinzu kommt eine Einführung von Bodo von Borries, die einen guten Überblick über Forschungsentwicklung und Forschungsstand zum frühen historischen Lernen, auch in internationaler Perspektive, liefert. Von Borries bezieht hierbei auch die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen mit ein, benennt eine Reihe von Forschungslücken und offenen Fragen (in Theorie und Empirie) und plädiert für eine realistische Bewertung der Möglichkeiten, aber auch der Begrenzungen des historischen Denkens und Lernens im Kindesalter und der Bedingungen institutionellen Lernens vor dem 'eigentlichen' Geschichtsunterricht.
In diesem Spektrum bewegen sich auch die Beiträge selbst, indem sie sich in ihrer Mehrheit mit den Kindern und deren historischen Kompetenzen beziehungsweise ihrer Förderung durch unterrichtliches Lernen befassen. Die Studien (zum Beispiel die von Stefanie Zabold, Andrea Becher und Eva Gläser) können dabei zum einen zeigen, zu welchen Denkleistungen Grundschulkinder bereits fähig sind (weshalb die alte These der 'Verfrühung' ad acta zu legen ist, wie auch die konzeptionellen Überlegungen seit den 1990er Jahren betont haben), dass aber das Spektrum an Wissen, Fähigkeiten und Vorstellungen bei den Kindern außerordentlich groß ist. Zum zweiten belegen mehrere Arbeiten (etwa von Monika Fenn und von dieser gemeinsam mit Franziska Streicher sowie von Beate Sodian), dass eine gezielte Förderung durch entsprechende unterrichtliche Interventionen möglich ist - und dies ist in diesem Falle besonders bemerkenswert, weil sich diese Arbeiten dem nicht gerade leichtesten Bereich historischen Denkens gewidmet haben, nämlich dem Metakonzept des Konstruktcharakters der Geschichte; wenn Grundschulkinder hier zumindest prinzipiell zu entsprechenden Denkleistungen fähig sind, ist für eine systematische Förderung historischen Denkens durchaus Optimismus angebracht.
Umso bedauerlicher ist es drittens, dass die Rahmenbedingungen für diese Förderung in mehrfacher Hinsicht nicht überall ideal zu sein scheinen, um es vorsichtig auszudrücken: Für eine Förderung, gar einen 'Konzeptwechsel', steht im Rahmen des Sachunterrichts trotz der Verankerung im 'Perspektivrahmen' nur relativ wenig Zeit zur Verfügung (weshalb etwa Monika Fenn richtigerweise in ihrer unterrichtlichen Intervention auf vergleichsweise kurze Anregungen setzt, denn nur dies scheint im Unterricht realistisch möglich). Noch mehr gilt dies für den Elementarbereich, in dem Charlotte Bühl-Gramer in einer Analyse der entsprechenden Bildungspläne nachweisen kann, dass Geschichte hier zwar etwas stärker vorkommt als dies vor circa zehn Jahren der Fall war, als der Rezensent eine vergleichbare Analyse durchgeführt hatte, dass der Anteil im Vergleich etwa zu den Naturwissenschaften aber immer noch sehr bescheiden ist. Und ein zweites Problem liegt in den oben erwähnten Kompetenzen und Einstellungen der Lehrkräfte. Wenn diese gar nicht oder kaum in Geschichte ausgebildet wurden, ist es nur wenig überraschend, dass, wie etwa Christian Mathis und Ludwig Duncker in einer Pilotstudie zum Perspektivenwechsel feststellen, manche Lehrkräfte zwar historische Themen unterrichten, das Fachliche dabei aber offenbar kaum eine Rolle spielt - und diese Lehrkräfte scheinen eher in der Mehrheit zu sein (ohne dass dies bereits empirisch geprüft wäre). Hier ist also vor allem der Ausbildung der künftigen Sachunterrichtslehrkräfte (ebenso wie der Erzieher*innen im Elementarbereich) konzeptionell und empirisch besondere Aufmerksamkeit zu widmen, weshalb es zu begrüßen ist, dass mit dem Beitrag von Waltraud Schreiber und Benjamin Bräuer auch das Lehramtsstudium in den Blick genommen wird. Beide haben ein Konzept für die Durchführung von Praxismodulen im Studium entwickelt und erprobt, das neben anderen Zielen auch eine Verbesserung des Unterrichts anstrebt.
Neben der Darstellung von bereits durchgeführten großen und kleineren empirischen Studien enthält der Band auch Beiträge, die sich stärker methodologischen Fragestellungen widmen, denn die Erforschung der Perspektiven von Grundschulkindern erfordert angepasste methodische Forschungskonzepte, wie etwa Markus Kübler mit seinen erfahrungsgesättigten Überlegungen zur Nutzung von Kinderzeichnungen und Strukturlegeaufgaben, jeweils in Verbindung mit Einzelinterviews, zeigen kann.
Insgesamt zeigt der Band, dass sich die empirische Forschung in diesem Bereich noch eher in den Anfängen befindet, aber auch, dass sich die Anstrengungen lohnen, nicht zuletzt auch für eine Legitimation der Verankerung historischer Lernprozesse in den Elementar- und Grundschulcurricula. Hier werden Interessen (die bislang in der Diskussion leider kaum eine Rolle spielen) und Kompetenzen grundgelegt. Weitere Forschungen sind notwendig, für die die Beiträge zahlreiche Anregungen liefern; in einem abschließenden resümierenden Beitrag entwickelt die Herausgeberin dazu eine Reihe von sinnvollen Perspektiven. Allerdings zeigt der Band auch, dass beim frühen historischen Lernen (wie auch im Geschichtsunterricht der weiterführenden Schulen) die Bäume nicht in den Himmel wachsen, die Erwartungen also nicht zu groß sein sollten und sehr präzise Förder- und Unterrichtskonzepte entwickelt, erprobt und evaluiert werden müssen (vergleiche hierzu die Beiträge von Sabine Hofmann-Reiter zum Zeitverständnis und Eva Engeli unter anderem zur Arbeit mit differenzierten Sachtexten). Eine realistisch-pragmatische Perspektive ist notwendig, für die dieser Band viele Anregungen zum Nachdenken und Konzipieren und einige neue empirische Grundlagen liefert.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche etwa Dietmar von Reeken: Historisches Lernen im Sachunterricht. Eine Einführung mit Tipps für den Unterricht, 6. aktualisierte Neuauflage, Baltmannsweiler 2017 (ursprünglich Seelze 1999); Waltraud Schreiber (Hg.): Erste Begegnungen mit Geschichte, 2 Teilbände, 2. erweiterte Auflage, Neuried 2004 (ursprünglich 1999); Klaus Bergmann / Rita Rohrbach (Hgg.): Kinder entdecken Geschichte. Theorie und Praxis historischen Lernens in der Grundschule und im frühen Geschichtsunterricht, Schwalbach / Ts. 2001; Kerstin Michalik (Hg.): Geschichtsbezogenes Lernen im Sachunterricht, Bad Heilbrunn / Braunschweig 2004; Rita Rohrbach: Kinder & Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was Erwachsene wissen sollten, Seelze-Velber 2009.
[2] Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU) (Hg.): Perspektivrahmen Sachunterricht, vollständig überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Bad Heilbrunn 2013.
Dietmar von Reeken