Monika Fenn / Maik Wienecke / Dirk Witt (Hgg.): Professionalisierung für das Unterrichten gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, 272 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1584-5, EUR 34,90
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Monika Fenn (Hg.): Frühes historisches Lernen. Projekte und Perspektiven empirischer Forschung, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018
Dirk Witt / Johann Knigge-Blietschau / Christian Sieber (Hgg.): Leitfaden Referendariat im Fach Gesellschaftswissenschaften, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2022
Monika Fenn / Christiane Kuller (Hgg.): Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016
Vom 10. bis 11. September 2020 richtete der Fachbereich der Didaktik der Geschichte an der Universität Potsdam eine bundesweite Tagung zum "Fach Gesellschaftswissenschaften" aus. Etwa 50 Teilnehmende aller Ebenen der Lehrkräfteprofessionalisierung befassten sich mit der Frage: "Was brauchen (zukünftige) Lehrkräfte für das 'Fach Gesellschaftswissenschaften'?" (8). Gemeint sind damit solche Unterrichtsfächer, "in denen die geographische, historische und politische Perspektive zusammentreffen und auch integrativ, d.h. unter Verknüpfung dieser drei Perspektiven, unterrichtet wird." (7) Der Sammelband vereint die Tagungsbeiträge und setzt damit gleichzeitig einen neuen Meilenstein im Diskurs zu gesellschaftswissenschaftlichen Verbundfächern. Bislang erschienen Beiträge unübersichtlich quer durch disziplinäre und interdisziplinäre Publikationsorgane. Eine Fachcommunity war schwer erkennbar, wissenschaftliche Tagungen, die ihre Ergebnisse breit publizierten oder ein Fachverband nicht existent. Auch wenn das im Sammelband von Daniel Ullrich vorgestellte "Netzwerk Gesellschaftswissenschaften" (189) seit 2016 durch Publikationen und Tagungen einen wichtigen Beitrag leisten konnte, ist der Lobbyverband doch vor allem auf die Stärkung der Unterrichtsfächer (190) ausgerichtet, weniger auf eine wissenschaftliche, also kritisch-hinterfragende, Auseinandersetzung.
In den letzten Jahren, so konnten Florian Johann und Thomas Brühne zeigen, ist aber insgesamt eine stärkere Verwissenschaftlichung des Diskurses erkennbar, erschienen vermehrt empirische und theoriebildende Beiträge und erfolgten auch interdiskursive Bezugnahmen. [1] Trotz dieser erfreulichen Entwicklung fehlt es nach meinem Dafürhalten aber noch immer an einer vor allem kritisch-diskutierenden Bezugnahme, an einer Reflexion getätigter Grundannahmen und an einer agierenden, unabhängigen Forschung im Unterschied zu der bislang in erster Linie auf bildungspolitische Setzungen reagierenden Auseinandersetzung.
Insofern kann die Bedeutung der hier vorliegenden Publikation gar nicht hoch genug gewürdigt werden: Erstens wurden unterschiedlichste Akteure des Diskurses auf einer wissenschaftlichen Tagung und in einem Sammelband zusammengebracht und damit das erste Mal eine wissenschaftliche Fachcommunity nach außen hin erkennbar. Zweitens erschien mit dem Sammelband die bislang umfangreichste, verschiedenste Aspekte des Diskurses zusammenführende Publikation zu gesellschaftswissenschaftlichen Verbundfächern. Drittens entstand so auch indirekt eine große Bibliographie zum Thema, die eine Orientierung im weitläufigen Diskursfeld zukünftig erleichtern wird. Viertens ist der resümierende Beitrag Monika Fenns als der wohl im Diskursfeld aktuell bedeutsamste Beitrag zu werten: Nicht nur werden die Aufsätze und damit viele Aspekte des aktuellen Forschungsstandes pointiert und klug strukturiert zusammengefasst, sondern diese auch analysiert, kritisiert und weitergedacht. Wo also bislang in der schwierigen Publikationssituation äußerst selten kritisch diskutierend auf andere Beiträge Bezug genommen wurde, geschieht hier genau das: Eine offene, kritische Auseinandersetzung, die weit über die zentrale Frage der Lehrkräftebildung hinausreicht.
Im Angebot sind dabei vielfältige Beiträge: Die Situation der Verbundfächer und Modelle der Lehrkräfteausbildung werden für die Schweiz (Peter Gautschi), Österreich (Thomas Hellmuth), Brandenburg (Maik Wienecke), Niedersachsen (Nikola Forwergk, Marcel Grieger und Andreas Eberth, Theresa Bechtel, Friedrich Huneke, Christiane Meyer, Dirk Lange, Meik Zülsdorf-Kersting), Rheinland-Pfalz (Matthias Busch, Michell W. Dittgen, Leif O. Mönter), Nordrhein-Westphalen (Christian Winklhöfer, Sonja Schwarze, Karin Meendermann), Schleswig-Holstein (Johann Knigge-Blietschau) und Hamburg (Dirk Witt) vorgestellt.
Dana Maria Kier befasst sich mit der Entstehung des Faches Gesellschaftslehre in Nordrhein-Westfalen und Thomas Brühne und Florian Johann präsentieren eine Studie zur Entwicklung eines Kompetenzmodelles. Peter Gautschi ist zusätzlich mit einem konzeptionellen Beitrag zur Weiterentwicklung der Verbundfächer vertreten.
Die vorgestellten Ausbildungsmodelle zeigen: Auch wenn die Verbundfächer in Deutschland bislang nicht studiert werden können (Ausnahme Primarstufe in Brandenburg), gibt es schon seit einigen Jahren intensiv erprobte, vielversprechende Qualifizierungsangebote. Sie überzeugen allesamt durch die Logik vom Disziplinären hin zum Disziplinen vernetzenden sowie durch die Einbettung kritisch-reflexiver Phasen. Es bleibt zu hoffen, dass die wegweisenden Modelle auch andernorts zur Konzeption von Qualifizierungsangeboten anregen. Eine ausführlichere, insbesondere die theoretischen Grundlagen reflektierende Publikation der Modelle, könnte hierbei hilfreich sein.
Kritisch ist der Sammelband hinsichtlich des fehlenden Hinterfragens gängiger Grundannahmen zu bewerten. In allen Beiträgen wird die Existenzberechtigung der Verbundfächer nicht in Frage gestellt - obwohl die wichtigen Grundlagen, wie vielfach angesprochen, nicht geklärt sind (89, 95, 135). Die Praxis wird in den Beiträgen zum Ausgangspunkt, sie gelte es weiterzuentwickeln und dafür auszubilden: Dem Fach müsse man gerecht werden (45), die Praxis müsse "den Lead übernehmen" (193), die Fächer seien "gekommen, um zu bleiben" (91). Sicherlich ist diese reagierende, starke Praxisorientierung dem Thema des Bandes geschuldet. Jedoch gehört zu einer Professionalisierungsdebatte meines Erachtens auch die Frage, ob das, wofür Universität ausbildet, überhaupt wissenschaftlich haltbar ist. Insbesondere dann, wenn es um Unterrichtsfächer geht, die bildungspolitisch gesetzt, aber weder theoretisch noch empirisch fundiert sind.
Besonders erfreulich ist dabei der historisierende Beitrag. Dana Maria Kier arbeitet die Kontingenz des Verbundfaches heraus und zeichnet die Fachentwicklung als Antwort auf politische Prozesse und Krisen des Bildungssystems nach. Hieran anschließend ließe sich kritisch fragen, ob wirklich eine Praxis "den Lead" übernehmen sollte, die bislang von nicht belegten und kaum theoretisierten Annahmen ausgeht und deren Didaktik im Wesentlichen durch Lehrplankommissionen gestaltet ist. So scheint etwa der Ansatz von Florian Johann und Thomas Brühne, ein Kompetenzmodell auf Basis einer Zusammenschau bisheriger Lehrpläne zu entwickeln (138), die Praxis eher zu reproduzieren als sie zu fundieren.
Monika Fenn resümiert: "Es fehlen nach wie vor die Grundvoraussetzungen für ein solides theoretisch-fundiertes Konzept für ein Fach Gesellschaftswissenschaften, das wiederum die Basis dafür ist, die Professionalisierungsphase angemessen zu gestalten." (247) Der Sammelband liefert viele Ansätze um über so ein Konzept nachzudenken. Beispiele sind Peter Gautschis Vorschlag einer "basalen Gesellschaftsreife" (205) als Zielkategorie oder Monika Fenns Überlegungen zu einer Unterrichtskonzeption, wonach sich "Phasen des Fachunterrichts und Projektphasen mit inter- und transdisziplinärem Zugriff" (247) abwechseln. Auch ihre Ideen zu einer Delphi Studie sind wegweisend (243).
Der Sammelband ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg hin zur Herausbildung eines sichtbaren, wissenschaftlichen Fachdiskurses - ein Weg, den es unbedingt weiter zu verfolgen gilt.
Anmerkung:
[1] Thomas Brühne / Florian Johann: Gesellschaftswissenschaften 2.0 - ein Unterrichtsfach im Spiegel versäumter Theoriebildung. In: inter- und transdisziplinäre Bildung (2023) H. 1, 103-117.
Melanie Richter-Oertel