Klaus-Dietmar Henke: Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage der Organisation Gehlen 1946-1953 (= Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968; Bd. 10), Berlin: Ch. Links Verlag 2018, 816 S., ISBN 978-3-96289-023-0, EUR 60,00
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Die angelsächsische Wissenschaft kennt die akademische Disziplin der Nachrichtendienstgeschichte (intelligence history). Deutschland hat Geschichts-Aufarbeitung, neuerdings auch für die bundesdeutschen Nachrichtendienste. Beide Ansätze unterscheiden sich fundamental: Die theoretische Modellierung und Historiographie von Aufgaben, Funktionsweisen, Erfolgen und Misserfolgen, Verbrechen und Heldentaten auf der einen Seite; ein psychologisch-moralisches "Durcharbeiten" auf der anderen, das als gesellschaftspolitischer Auftrag verstanden wird und, wie im Fall der Stasi-Unterlagenbehörde, institutionalisiert wurde.
Dieser Hintergrund ist essenziell, um das Projekt der Unabhängigen Historikerkommission des Bundesnachrichtendienstes (UHK) und den hier besprochenen Band zu verstehen. Klaus-Dietmar Henke, selbst ehemaliger Leiter des Bereichs Forschung beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), setzte sich selbst das erklärte Ziel, die Inlandsarbeit des BND bzw. seines Vorläufers, der Organisation Gehlen, im Stil der MfS-Aufarbeitung anzugehen.
Die These des Autors, die er bereits 2014 ausführte und nun (teilweise wörtlich) wiederholt [1], lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Unter dem Deckmantel der Spionageabwehr gegen Sowjetunion und Kommunismus betrieb die "Org" eine umfassende und illegale politische Inlandsspionage. Politiker, Beamte, Intellektuelle, Parteien, Medien und Gewerkschaften, die in Verdacht gerieten, außerhalb des erzkonservativ, katholisch, soldatisch, obrigkeitsstaatlich und national geprägten Weltbildes der "Org" zu stehen, wurden zum Zielobjekt nachrichtendienstlicher Arbeit. Detailversessen beschreibt Henke dazu alles, was er finden konnte: Intellektuelle, bayerische Politiker und Beamte, die bayerische Polizei und der Verfassungsschutz, Medien wie den Nordwestdeutschen Rundfunk oder den Spiegel, neutralistische und pazifistische Kreise, Gewerkschaften, FDP und SPD, die Intrigen des Gehlen-Dienstes und seiner Verbündeten gegen die Rivalen Friedrich-Wilhelm Heinz, Otto John und Sicherheitsberater Gerhard Graf von Schwerin. Hauptnutznießer dieser Arbeit waren Gehlen, seine "Org" und Bundeskanzler Adenauer bzw. sein Intimus und Kanzleramtsminister Hans Globke. Als Instrumente dienten dabei "Sonderverbindungen", die "Spionageabwehr" und die Abteilung "Strategischer Dienst".
Das Buch ist gekennzeichnet durch enorme Detailfülle und wissenschaftliche Akribie. Bereits im Aufbau der Studie ist das leidenschaftliche Bemühen ersichtlich, jeder Form der Inlandsarbeit der Organisation Gehlen nachzuspüren. Die Anzahl der Einzelfälle soll zeigen, dass Inlandsarbeit keineswegs nur ein "Nebenprodukt" war, wie Gehlen selbst behauptete.
Dass jedoch nicht nur linke, sozialdemokratische oder liberale, sondern auch rechtsextreme Organisationen wie die SS-Bünde der HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS) oder der Stahlhelm von der "Org" in einem "militärischen Verfassungsschutz" überwacht und gemäßigt wurden, bleibt - obgleich Ergebnis einer anderen UHK-Studie - seltsam unerwähnt [2]. Auch die Ergebnisse, die Jost Dülffers UHK-Studie über die Medienbeziehungen von "Org"/BND und vor allem über die "Sonderverbindungen" vorlegte, lesen sich differenzierter als Henkes Aussage, dass es sich dabei ausschließlich um "politische Inlandsspionage" gehandelt habe [3]. Wo Dülffer von der "ermüdenden Aufzählung" (620) von Einzelfällen absah, setzt Henke erst an. Manche dieser Fälle bleiben dann aber Stückwerk, wie das Beispiel über die Verbindungen der "Org" zum Institut für Zeitgeschichte. Dort war zwar der erste Direktor und CSU-Politiker Gerhard Kroll eine "Sonderverbindung", traf sich zum Austausch (kruder) Gedanken und brachte den Wehrmachts-General und "Org"-Mitarbeiter Hermann Foertsch für militärische Forschungen im IfZ unter; doch über den Einfluss, den die "Org" auf die operative Arbeit ausübte, gibt es kaum Unterlagen, weshalb die Schlussfolgerungen dann im Konjunktiv stehen.
Gleichfalls vermeidet der Autor eine Definition dessen, was er unter illegaler politischer Inlandsspionage versteht. Das wirft Fragen auf. Ein Beispiel bietet das Agieren der "Org" und Reinhard Gehlens gegen den ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, oder den Konkurrenten Friedrich-Wilhelm Heinz. In beiden Fällen intrigierte Gehlen im Bundeskanzleramt und bei den Amerikanern gegen die verhassten Konkurrenten. Unappetitlich, intrigant, hinterhältig und auch außerhalb der Legalität war Gehlens Vorgehen hier zweifellos. Aber waren die Intrigen auch politische Inlandsspionage?
In demselben Kontext bezeichnet Henke zwei "Sonderverbindungen" (die Generale Adolf Heusinger und Hans Speidel) als "Agenten einer fremden Macht" (409), womit er die "Org" meint. Doch wie konnte eine "fremde Macht" Inlandsspionage betreiben? Müsste die Arbeit der "Org" dann nicht konsequenterweise insgesamt als "fremde" (amerikanische) Spionage bezeichnet werden? Da die "Org" bei ihrer - zweifellos moralisch und politisch fragwürdigen - Inlandsarbeit gleichsam ohne gesetzliche Grundlage, aber mit Wissen und Billigung ihrer amerikanischen Dienstherren und des Bundeskanzleramtes operierte, stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung "illegale politische Inlandsspionage" wirklich passt. Diesen Fragen geht die Studie an keiner Stelle nach.
An vielen Stellen beschleicht den Leser das Gefühl, mit dem der Geheimdiensthistoriker Paul Maddrell die Erkenntnisse zu westlichen Geheimdiensten im Kalten Krieg zusammenfasste: "what we discovered is what we already knew" [4]. Die Inlandsarbeit der Organisation Gehlen und des frühen BND war mitnichten ein weißer Fleck, wie auch Henkes Rezeption des Forschungsstandes zeigt. Vom Guillaume-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages (Drs. 7/3246 vom 19.2.1975), über Forschungsarbeiten bis hin zum Enthüllungsjournalismus wurde das Thema bereits ausführlich rezipiert. Henke will nun anhand der verbliebenen Akten den ultimativen und erschöpfend breiten Nachweis führen. Dabei kommt es zu zahlreichen Redundanzen: Das gesamte Kapitel IV ("Nach Bonn!") bietet im Vergleich zur Gehlen-Biografie Rolf-Dieter Müllers [5] minimalen Erkenntnisgewinn. Ebenso verhält es sich mit Teilen von Kapitel II ("Erste Schritte im Inneren"), die nicht nur von Müller, sondern auch von Thomas Wolf [6] beschrieben wurden. Kapitel VI ("Gegnerbekämpfung: Verdächtigung, Verleumdung, Rufmord") wurde gleichfalls bei Müller behandelt. Die Themenkomplexe "Sonderverbindungen" und Medien sind hingegen im Band von Jost Dülffer nachzulesen, über den "Strategischen Dienst" informiert Wolf. Ein beachtliches Kürzungspotential blieb hier ungenutzt.
Die wissenschaftliche Hingabe und Leidenschaft, mit denen der Autor selbst kleinsten Details nachjagt, spricht aus jedem Satz der Studie. Aufbau, Umfang, Ausgewogenheit und Duktus des Buchs tut dies allerdings nicht immer gut. Zwei versetzt erscheinende Bände, geschätzte 1600 Seiten, über 100 Euro Kaufpreis - welches Publikum diese Studie finden soll, ist nicht ersichtlich. Ein Vergleich mit anderen nachrichtendienstlichen Geschichtsprojekten bietet sich an: Keith Jefferys Geschichte des MI6 kommt auf rund 840, Christopher Andrews "Wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes MI5" auf 910, Richard J. Aldrichs offizielle Geschichte des Government Communications Headquarters (GCHQ) auf 666 Seiten und die Geschichtsstudie des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf 463 Seiten [7]. Henkes Bände scheinen hingegen den alleinigen Rekord für das längste und teuerste Werk der UHK anzupeilen. Diesen hielt bislang die Gehlen-Biografie Rolf-Dieter Müllers (1376 Seiten für 100 Euro), die der sehepunkte-Rezensent seinerzeit zusammenfasste: "das ist zu lang" [8].
Die Öffentlichkeit, der public history-Projekte dienen sollen (und die sie finanziert), wird dieses Monstrum von Forschung - ähnlich der monumentalen Gehlen-Biografie - sicherlich nicht verdauen können. Ob die freie akademische Wissenschaft die gelieferten Impulse aufnehmen und überprüfen kann, hängt von der Frage ab, ob die genutzten Akten tatsächlich öffentlich zugänglich gemacht werden. Die Redundanzen, der Umfang, der zwischen professoralem Duktus und seitenweiser Wiedergabe wörtlicher Zitate schwankende Sprachstil sowie der Kaufpreis machen daher wenig Lust auf den zweiten Teilband, der dasselbe Thema für die Jahre 1953 bis 1956 bearbeiten wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Klaus-Dietmar Henke: Zur innenpolitischen Rolle des Auslandsnachrichtendienstes in der Ära Adenauer, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18-19/2014, 32-36, hier 32, bzw. das hier angezeigte Buch, 56 und 779.
[2] Vgl. Agilolf Keßelring: Die Organisation Gehlen und die Neuformierung des Militärs in der Bundesrepublik, Berlin 2017, 192-229.
[3] Vgl. Jost Dülffer: Geheimdienst in der Krise. Der BND in den 1960er-Jahren, Berlin 2018, 541-620, insb. 541-549 und 618-620.
[4] Vgl. Paul Maddrell: What we have discovered about the Cold War is what we already knew: Julius Mader and the Western secret services during the Cold War, in: Journal of Cold War History 5 (2005), 235-258.
[5] Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biografie, Berlin 2017.
[6] Thomas Wolf: Die Entstehung des BND. Aufbau, Finanzierung, Kontrolle, Berlin 2018.
[7] Keith Jeffery: MI6. The History of the Secret Intelligence Service 1909-1949, London 2010; Christopher Andrews: MI5. Die wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes, Berlin 2010; Richard J. Aldrich: GCHQ. The uncensored story of Britain's most secret intelligence agency, London 2010; Constantin Goschler / Michael Wala: "Keine neue Gestapo". Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek bei Hamburg 2015.
[8] Vgl. Armin Wagner: Rezension von Rolf-Dieter Müllers Biografie über Reinhard Gehlen, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: http://www.sehepunkte.de/2018/09/31212.html
Christopher Nehring