Natan Sznaider: Gesellschaften in Israel. Eine Einführung in zehn Bildern, 2. Auflage, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2018, 320 S., eine Kt., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-633-54285-7, EUR 28,00
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Kann das zionistische Israel eine pluralistische, sich globalisierende Gesellschaft ergeben? Kann eine nationalstaatliche, sicherheitspolitisch orientierte politische Kultur nebeneinander lebende, kosmopolitische Parallelgesellschaften produzieren? Der Tel Aviver Soziologe Natan Sznaider spricht ausdrücklich von "Gesellschaften in Israel" und fragt danach, wie aus dem religiös begründeten jüdischen Staat die tatsächlich gelebten "individualistischen, demokratischen und konsumgesellschaftlichen Lebensweisen" hervorgegangen seien. Ist Israel also "westlich, orientalisch, vormodern, modern, postmodern, nachmodern" oder "alles gleichzeitig" (10)? Sznaider leitet die Hoffnung, diese Diskrepanzen überbrücken zu können: "Jeder Kampf um Demokratie in Israel muss daher mehr und nicht weniger religiöse Elemente des Judentums einbeziehen. Das heißt auch, dass säkulare und aufgeklärte Juden in Israel eine Variante der Aufklärungstradition entwickeln müssen, die auf jüdische partikulare Bedingungen eingeht. Im anderen Lager können orthodoxe Juden in den jüdischen Gesetzen und der darauf beruhenden religiösen Kultur die kreative Flexibilität wiederentdecken, die Teil der jahrhundertealten Diasporakultur war." (20)
In zehn Kapiteln werden diverse Milieus beschrieben. Das erste Kapitel "Generation Global: J14 in Israel" thematisiert den sozialen Protest im Sommer 2014. Das hier behandelte Milieu ist die zweite bzw. dritte Generation der Mittel- und oberen Mittelschicht. Diese meist aschkenasischen, säkularen jungen Israelis waren inspiriert von anderen sozialen Protesten wie in Kairo oder Madrid und brachten ihren Protest über die immer höheren Lebenshaltungskosten zum Ausdruck. Die Demonstrationen richteten sich gegen den Staat und seine neoliberale Sozialpolitik. Israels Palästinapolitik war kein Thema, auch nicht die langjährige Besatzung. Der Slogan dieser Proteste "Das Volk will soziale Gerechtigkeit" richtete sich an die jüdischen Israelis.
Das zweite Kapitel "Entweder/Oder: Die Opferung Jitzchak Rabins" behandelt am Beispiel des politischen Mords von 1995 die Auseinandersetzung zwischen den zwei großen zionistischen Lagern. Sznaider fragt: "Kann die Sprache des aufgeklärten Israel gleichberechtigt neben der Sprache der Heiligkeit stehen?" (15) Seine Antwort deutet auf ein engeres Verhältnis zwischen den Rechts- und den Linkszionisten hin: "Die Gesellschaft hat diesen Mord genutzt, um sich alt-neu wieder zu konstituieren, neue Solidaritäten zu schaffen und vor allen Dingen den virulenten 'Bruderkrieg' zu überwinden. Letztendlich hat die israelische Gesellschaft nach 1996 einen Modus gefunden, mit der in ihr angelegten Spannung zwischen dem Selbstverständnis als jüdischer Staat und dem als Demokratie umzugehen." (61) Doch zugleich fürchtet der Autor den "Kampf zwischen nationalstaatlicher Normalität und den Gesetzen der Erlösung" (64).
Das dritte Kapitel "Nicht hier und nicht dort: Die Vorstellungen der israelischen (National-)Kultur(en)" sucht anhand der Vielfalt des israelischen kulturellen Schaffens die These von mehreren Gesellschaften und Kulturen zu untermauern. Dafür werden Literaten und Filmmacher angeführt, von sogenannten Gründern der neuen hebräischen Nationalkultur wie Samuel Joseph Agnon, Moshe Schamir bis hin zu ihren angeblichen Kritikern wie Amos Oz, David Grossman, Ari Folman und Assi Dayan. Allen sei allerdings im Kern die "Sehnsucht nach zu Hause" gemein, "die nie wirklich befriedigt werden kann" (87). Diese Sehnsucht wird auch im hier vorgestellten Film "Nicht hier und nicht dort" der jungen arabisch-israelischen Filmemacherin Maysaloun Hamoud aus dem Jahr 2016 thematisiert. Vielfalt sei zu begrüßen: "Eine Nationalkultur, eine israelischen Leitkultur, mag zwar noch in der staatstragenden [also zionistischen] Ideologie existieren, aber in der kulturellen Praxis stellen sich die Gesellschaften gegenseitig in Frage, und zwar auf Hebräisch und auf Arabisch, und tragen damit zur Stabilität dieser Gesellschaften im Land bei." (89)
Das vierte Kapitel "Zivia Lubetkin und Hannah Arendt: Die Beschreibungen des Holocaust" rückt zwei Narrative der Shoah-Erinnerung in den Blick: Die eine Erinnerung verkörpert die zionistische Heldin - die Ghetto-Kämpferin, die nach Israel kam und zum zionistischen Projekt und zur staatstragenden Holocaust-Erinnerung beigetragen hat. Die andere, eher kritische Erinnerung wurde geprägt durch die angeblich "postzionistische, anti-israelische und antijüdische Denkerin". Diese vielen Stimmen verstärkten den "israelischen Pluralismus", was allerdings das historische Ereignis selbst in Vergessenheit geraten und die "wirkliche Bedeutung der Shoah" verloren gehen lasse (126).
Um den israelischen Pluralismus geht es auch im fünften Kapitel: "Queer Israel und die Bedeutung der (Euro-)Vision". Anhand der Erfolgsgeschichte einer queeren Dana International, die 1998 den Eurovision Song Contest gewann, soll Israels Gender-Offenheit, mithin die Bedeutung der Frau, gezeigt werden: "Dana International und die Vier Mütter [eine Bewegung der 1990er Jahre mit dem Ziel des militärischen Rückzugs aus dem Libanon] sind Teil der Geschichte des israelischen Liberalismus und seiner globalen Verknüpfung. Der verweiblichte Diasporajude ist nicht die Antithese des zionistischen Mannes, sondern beide zusammen machen sie einen tragenden Teil der israelischen Gesellschaften aus." (154)
Das sechste Kapitel "Kafir Quasim und die schwarze Flagge der Illegalität: Israel und die arabische Bevölkerung" behandelt die schmerzhafte Beziehung zwischen den arabischen und jüdischen Israelis, und zwar von den ersten arabischen Gewaltausbrüchen gegen Juden in Hebron 1921 und 1929, über die palästinensische Nakba 1948, das Massaker an den arabischen Dorfbewohnern in Qasim 1956 bis hin zur Tötung von zwölf israelisch-arabischen Demonstranten durch die israelische Polizei kurz nach dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Oktober 2000. Sznaider fragt danach, ob "die arabische Bevölkerung innerhalb Israels als Feind oder bloß als Minderheit" (172) zu verstehen ist. Eine klare Antwort gibt er nicht, denn hier wird der Konflikt im Kontext der jüdischen Nationalstaatlichkeit und des zionistischen Projekts in Eretz Israel nicht ernsthaft behandelt.
Das siebte Kapitel "Der Tempelberg ruft: die Heiligkeit der Souveränität" sucht nach der Bedeutung Jerusalems, und zwar nicht nur für religiöse Zionisten: "Wenn man behauptet, wie es die palästinensische Führung oft tut, dass es keine eigene, historisch bedeutsame Beziehung der Juden zum Tempelberg gebe, dann ist die jüdische Präsenz im Nahen Osten ein weiteres Kolonialprojekt ohne jeglichen historischen oder mythischen Bezug. [...] Wenn man aber die jüdische Verbindung zum Tempelberg anerkennt, wenn also die tiefe Geschichte der Juden hier eine rote Linie zieht, dann haben die Juden aus ihrer Sicht die Legitimation, über Jerusalem, und zwar über ganz Jerusalem, zu herrschen. Es geht also nicht um einen politischen Konflikt, wo weltliche Souveränität und Kompromiss Schlüsselbegriffe sind. Das Sakrale ist schwer verhandelbar." (202)
Im achten Kapitel "Ost trifft auf Ost: Orientalische Juden in Israel" geht es um die Misrachim, also um die Juden aus arabischen Ländern. Anhand des Kultfilms "Sallah Shabati" des aus Ungarn stammenden Ephraim Kishon von 1964 zeigt Sznaider die Bildung von Stereotypen zwischen den orientalischen und aschkenasischen Juden. Überdies werden jüdisch-israelische Kulturschaffende arabischer Herkunft wie Zohar Argov, Erez Biton, Ronit Matalon, Maor Zaguri angeführt. Inwieweit Ost auf Ost trifft und in welchem Kontext die Rolle der Misrachim im pluralistischen Israel steht, wird aber leider nicht ersichtlich.
Im neunten Kapitel "Zwei Kamele treffen sich am Abgrund: Ethnizität und Staatsbürgerschaft" behandelt Sznaider die beiden großen Immigrationswellen der 1990er Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Äthiopien. Der bedeutsame Beitrag der russischen Juden zu Kultur und Politik einerseits, die Randexistenz der Juden aus Äthiopien andererseits sind das Thema. Auch hier vertritt Sznaider die These von Pluralismus und Spaltung, mithin von der Zerbrechlichkeit Israels.
Dazu trugen sicherlich auch die nichtjüdischen Asylsuchenden aus Sudan und Eritrea bei, die im neuen Millennium nach Israel kamen. Im abschließenden zehnten Kapitel: "Weh den Sorglosen auf dem Zion und den Selbstsicheren auf dem Berg von Samaria" geht es um die innerisraelische Debatte, ob es sich hier um "Infiltranten" handelt, die Israel als jüdischen Staat gefährden, oder um Flüchtlinge, die schon wegen der Lehren aus der Shoah aufgenommen werden sollten. Das zionistische Israel sah sich und seinen Mythos vom Schmelztiegel für die Juden aus aller Welt durch dieses Phänomen der Globalisierung gefährdet.
Wie funktioniert die israelische Gesellschaft trotz ihrer Fragmentierung? Sznaider bemerkt selbst: "Das Buch hat mich verunsichert und beunruhigt, und ich wünsche mir, dass es dem Leser ebenso geht." (21) Ein ungutes Gefühl bleibt tatsächlich nicht aus, und zwar vor allem aus folgenden Gründen: Quellen fehlen ebenso wie klare Fragestellungen und Untertitel, so dass sich die Argumentation des Autors nur schwer nachvollziehen lässt. Was Sznaider ausblendet, ist die entscheidende Funktion von Staat und Militär in dieser - das kann nicht genug betont werden - sicherheitspolitisch orientierten Ordnung und Kultur. Staat und Militär halten diese gespaltene Immigranten-Siedler-Gesellschaft zusammen, und zwar mit Hilfe der staatstragenden zionistischen Ideologie einerseits und der beinahe mythisch aufgeladenen Sicherheitsfrage andererseits. Sznaiders Vermutung, der Nationalstaat sei ein "historisches Auslaufmodell" (309), wird allemal von den politischen Realitäten des zionistischen Israel widerlegt, das gerade das Nationalstaatsgesetz in sein Grundgesetz aufgenommen hat.
Tamar Amar-Dahl