Marion Keller: Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft; Bd. 8), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018, 444 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-11985-6, EUR 66,00
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In der Geschichte der frühen Soziologie kommen Frauen bislang noch immer kaum vor. Die Disziplingeschichte der Soziologie in Deutschland ist geprägt von den Männern, die als Lehrstuhlinhaber von der Nationalökonomie kommend mit empirischer Sozialforschung begonnen haben. In ihren Studien haben sie hauptsächlich die männliche Hälfte der Gesellschaft betrachtet, von der Wahrnehmung ausgehend und diese zugleich verfestigend, dass das Allgemeine männlich sei. Da Frauen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Zugang zu höherer Schulbildung und zu den Universitäten verwehrt war, erscheint das Fehlen von Frauen in der Forschung zunächst die logische Konsequenz zu sein. Erst seit etwa zwanzig Jahren haben Wissenschaftshistorikerinnen der Soziologie einige Frauen in der Soziologie des frühen 20. Jahrhunderts entdeckt. Marianne Weber gehört zu den prominenten Namen, die hier genannt werden und auch Henriette Fürth, die, ohne studiert zu haben, als erste Frau in die Deutsche Gesellschaft für Soziologie aufgenommen wurde und auf dem ersten Soziologentag 1910 eine Rede hielt. Die Karrieren der ersten Frauen, die den akademischen Weg einschlagen konnten, wurden von den Nationalsozialisten beendet. [1]
Die soziologische Ahnengalerie hat Marion Keller nun in einer bei Ute Gerhard und Ulla Wischermann entstandenen Dissertation erweitert. Sie nimmt vier Forscherinnen in den Blick, die zwischen 1850 und 1883 im Abstand von jeweils etwa zehn Jahren geboren, älter sind als die bisher bekannten frühen Soziologinnen. [2] Sie zeigt damit, dass es bereits im Kaiserreich um 1900 Frauen gab, die forschend tätig waren und deren Studien zu Fabrikarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen und zu Frauen in der Landwirtschaft in der Disziplin fachlich anerkannt wurden. Sie nahmen in ihren Forschungsarbeiten die Lebenswelten von Frauen in den Blick und erweiterten damit den Gegenstandsbereich der Sozialforschung. Obwohl den älteren von ihnen der Zugang zu höherer Bildung und zur Universität noch versperrt war, hatten sie Kontakte zur akademischen Wissenschaft und wurden von dort auch gefördert, etwa von Gustav Schmoller und Max Sering. Die beiden Jüngeren konnten studieren, sie promovierten bei Lujo Brentano bzw. Alfred und Max Weber. Keller zeigt, wie diese sich selbst als fortschrittlich verstehenden Professoren Frauen zwar einerseits in ihren wissenschaftlichen Ambitionen förderten, ihnen aber dennoch Grenzen setzten. Auch Alfred und Max Weber lehnten die Habilitationswünsche von Marie Bernays ab.
Obwohl die Forscherinnen, so das Ergebnis von Marion Keller, einen substantiellen Beitrag zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung leisteten, sie sowohl methodisch als auch thematisch weiter entwickelten, fanden ihre Ergebnisse keinen Eingang in Gesamtdarstellungen und damit in den Kanon der Fächer. Trotz der Anerkennung ihrer forscherischen Leistungen seien sie aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit nicht als gleichwertig wahrgenommen worden, und auch ihre Forschungsgegenstände aus der Lebenswelt von Frauen wurden als randständig eingestuft. Das Allgemeine blieb männlich.
Dass den Frauen ihre Forschungstätigkeiten überhaupt möglich waren, erklärt Keller daraus, dass die empirische Sozialforschung als Teilbereich der im Entstehen begriffenen Soziologie noch relativ offen für Außenseiterinnen gewesen sei. Deshalb sei hier wissenschaftliche Arbeit und deren Anerkennung in stärkerem Maße möglich gewesen, als das in anderen Disziplinen der Fall war. Hinzu komme, dass die Forschung dem als weiblich wahrgenommenen Feld der sozialen Frage und der Sozialfürsorge galt.
Keller betrachtet die vier Fallstudien als Kreuzungspunkte verschiedener Stränge: eines wissenschaftshistorischen mit der Geschichte der empirischen Sozialforschung, einen der Frauenbewegung und des allmählichen Vordringens von Frauen in die Universität, das analog dem Vordringen in die Politik über weiblich konnotierte soziale Themen und Fürsorgearbeit erfolgte, und die soziale Arbeit selbst, in der alle vier Frauen tätig waren. Für die Protagonistinnen war ihre Forschung eingebettet in ihr Engagement in der Frauenbewegung, der sozialen Arbeit und Sozialpolitik, die verschiedenen Bereiche sollen deshalb in ihrer Verflochtenheit in den Blick genommen werden.
Die Studie ist in zwei Hauptteile gegliedert, die die vier Frauen in zwei Generationengruppen einteilt: Als "Autodidaktinnen" werden die 1850 geborene Elisabeth Gnauck-Kühne und die zwölf Jahre jüngere Gertrud Dyhrenfurth betitelt. Sie mussten sich ihre Bildung und das zum Forschen nötige akademische Handwerkszeug selbständig erarbeiten. Ihnen gegenüber hatten die als "Promovendinnen" bezeichneten Jüngeren bereits Zugang zur Universität. Trotzdem war auch der 1874 geborenen Rosa Kempf und der 1883 geborene Marie Bernays am Ende des Kaiserreichs der Eintritt in eine akademische Laufbahn versperrt. Beide Hauptteile werden jeweils von einem allgemeinen Kapitel eröffnet, das die wissenschaftshistorischen Rahmenbedingungen für von Frauen durchgeführte empirische Sozialforschung in den beiden Zeitfeldern absteckt. Es folgen jeweils Kapitel zu den Personen, die einen biographisch-politischen und einen wissenschaftlichen Teil gegliedert werden. Biographien sowie politische und wissenschaftliche Netzwerke hat die Autorin aus verstreuten Quellen in detektivischer Arbeit rekonstruiert, da ein Nachlass nur von Gnauck-Kühne - und auch der leidglich lückenhaft - überliefert ist. Die von ihr erstellten Publikationsverzeichnisse verdeutlichen die weitgespannte schriftstellerische Tätigkeit der Forscherinnen, die neben wissenschaftlichen Publikationen auch solche zu sozialpolitischen Themen und solchen der Frauenbewegung umfassten.
Marion Keller ist nicht die erste, die darauf hinweist, dass - anders als die Fachgeschichten noch immer ausweisen - auch weibliche Forscherinnen an der Entwicklung der empirischen Sozialforschung in Deutschland beteiligt waren. Sie zeigt, dass es hier noch einiges zu entdecken gibt. Die lesenswerte Studie macht einmal mehr deutlich, wie Frauen die Fähigkeit zur Teilhabe abgesprochen, der Zugang verwehrt und trotz aller Widerstände erbrachte Leistungen ignoriert oder als randständig beiseitegeschoben wurden und wie die Teilhabe in kleinen Schritten von Generation zu Generation erkämpft werden musste.
Anmerkungen:
[1] Claudia Honegger / Theresa Wobbe (Hgg.): Frauen in der Soziologie: Neun Portraits, München, 1998; Claudia Honegger: Die bittersüße Freiheit der Halbdistanz. Die ersten Soziologinnen im deutschen Sprachraum, in: Theresa Wobbe (Hg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt am Main 1994, 69-85.
[2] Vgl. Theresa Wobbe: Wahlverwandtschaften: Die Soziologie und die Frauen auf dem Weg zur Wissenschaft, Frankfurt/Main u.a. 1997.
Barbara Wolbring