Alfons Reckermann: Überzeugen. Rhetorik und politische Ethik in der Antike (= Blaue Reihe), Hamburg: Felix Meiner Verlag 2018, 342 S., ISBN 978-3-7873-3437-7, EUR 24,90
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Im berühmten Audienzsaal des Collegio del Cambio in Perugia schmücken antike Persönlichkeiten gemeinsam mit den Allegorien der Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit als Vorbild und Mahnung der Anwesenden die Decke, darunter - mit langem Bart als Philosoph gekennzeichnet - auch der Athener Stratege und Redner Perikles: Wer als Redner guten Rat zu geben in der Lage war, dem gebührt - so die Vorstellung - die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Daher ist es gar nicht so erstaunlich, dass sich der Münchner Philosoph Alfons Reckermann in seiner Darstellung der politischen Ethik der Polis nicht wie ansonsten so häufig Aristoteles und Platon zuwendet, sondern untersucht, wie die griechische Rhetorik die Herstellung gemeinsamer Entscheidungen über die Formen des Zusammenlebens durch Rede und Gegenrede konzipierte und welche Vorstellungen vom Menschen und seinen politischen Rahmenbedingungen als Voraussetzung für gute Politik in der antiken Rhetorik bestanden.
Reckermann entwickelt sein Argument in drei Schritten: In einem ersten Abschnitt thematisiert er unter der Überschrift "Das Problem: Von der Stasis zur Polis" die Überwindung eines unzivilisierten Urzustandes durch soziale Ordnung am Beispiel der Orestie des Aischylos (21-46). Dabei beschränkt er sich nicht auf die Ablösung der Rache durch das Recht, sondern betont - am Beispiel der Abstimmung des Areopag in den Eumeniden - vor allem die Notwendigkeit, die Rechtsfolgen durch die Rede zu bewältigen: Die Entscheidung des Gerichts gegen die Erinnyen erzeugt zunächst nur erneuten Verhandlungsbedarf. Erst die folgende Rede der Göttin Athene bewirkt, im Zusammenspiel mit der notwendigen Bereitschaft der Rachegöttinnen, sich in die Polis-Ordnung einbinden zu lassen, den Ausgleich zwischen den Interessen der Beteiligten und schließlich die Akzeptanz des Freispruches des Orest.
Für das Politische ist aber ausschlaggebend, dass die Fähigkeiten, die in den Eumeniden die Rede der Göttin besitzt, auch für die Menschen verfügbar werden. Ein zweiter Abschnitt ist daher den "konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik" gewidmet (47-126). Am Beispiel des Gorgias zeigt Reckermann, wie bei diesem die politische Kunst und insbesondere die Sprache selbst helfen, den tierischen Urzustand zu überwinden, wobei Gemeinwohlorientierung von Redner und Hörern notwendige Prämissen für das Funktionieren politischer Ordnung darstellen. Dies bewirkt Gorgias dadurch, dass das Individuum entsprechend sozialisiert wird. Es kann aber auch, und dies zeigt der Verfasser an den Überlegungen Xenophons zur Bedeutung der Rede, durch die Institutionen der Polis erreicht werden. Sie müssen so ausgestaltet werden, dass es zu einem Wettbewerb der Bürger darum kommt, den Mitbürger an Selbstbeherrschung und Besonnenheit zu übertreffen. Diese Betonung der institutionellen Rahmung, die das Gelingen guter Politik ermöglicht, lässt sich auch im Œuvre des Isokrates nachweisen. Ausgerichtet werden muss das Streben des Menschen auf nützliche Ziele, auch wenn diese nicht leicht erreichbar sind, weil der Mensch von Natur aus danach strebt, mehr haben zu wollen (pleonexia) und seinen eigenen Nutzen zu mehren. Reckermann arbeitet hier heraus, wie die Rede Isokrates dazu dient, bei den Zuhörern den Eindruck zu vermitteln, das erstrebte Ziel sei für alle vorteilhaft. Das muss aber wiederum zumindest eine gewisse Entsprechung in der Einheitlichkeit der Interessen der am politischen Entscheidungshandeln beteiligten Akteure und damit in der sozialen Homogenität der Bürgerschaft besitzen.
Dieser hohe Anspruch, den die Rhetorik an die Umwelt des politischen Systems richtet, führt zum dritten Abschnitt: "Realisierungsprobleme - Möglichkeiten und Grenzen rhetorisch fundierter Politik" (127-229). Reckermann nutzt hierzu Persönlichkeiten, die in der griechischen Geschichtsschreibung als herausragende Politiker galten, und untersucht am Beispiel Solons, Kleisthenes', Themistokles' und Perikles' unter welchen Rahmenbedingungen Politik gelang bzw. wo nach der Vorstellung antiker Autoren die Grenzen der isegoria lagen. Die Rhetorik selbst bot hier keine überzogenen Vorstellungen ihrer Möglichkeiten: Nicht nur, dass von der Existenz von Gegenständen ausgegangen wurde, die sich politischer Steuerung grundsätzlich entzögen, auch dort, wo Entscheidungen machbar schienen, war ihre Qualität mit den Handlungsdispositionen der Akteure, des Redners wie des Zuhörers, verknüpft. Die politische Kunst der Rede war zum Guten genauso einsetzbar wie zum Schlechten.
Das Buch wird durchweg seinem Anspruch gerecht, eine Darstellung der politischen Ethik der griechischen Rhetorik zu geben. Dem Autor gelingt es, die großen Linien nachzuverfolgen und zu einem schlüssigen Gesamtbild zu bündeln, wobei das Ergebnis nicht nur inhaltlich überzeugt, sondern durchweg auch Lesevergnügen bietet. Reckermanns Stärke sind aber die Einzelinterpretationen zentraler Passagen zur politischen Ethik: von Solons Eunomia-Elegie, über die Reden, die Thukydides Perikles in den Mund gelegt hat, wie zum Beispiel dem epitaphios logos, bis hin zu ausgewählten Kunstreden des Isokrates. Selbst häufig traktierten Texten vermag er neue Seiten abzugewinnen. Manche Interpretationen mögen strittig sein, den Rezensenten hat er jedenfalls überzeugt.
Jan Timmer