Helmut Glück / Mark Häberlein / Andreas Flurschütz da Cruz (Hgg.): Adel und Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit. Ziele, Formen und Praktiken des Erwerbs und Gebrauchs von Fremdsprachen (= Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 155), Wiesbaden: Harrassowitz 2019, 259 S., 5 s/w-Abb., 5 Tbl., ISBN 978-3-447-11137-9, EUR 58,00
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Die Publikation ist das schriftliche Ergebnis einer Fachtagung, die im September 2016 an der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel abgehalten wurde. Internationale Wissenschaftler verschiedener Sparten widmeten sich Fragen zu Bildung und Wissensvermittlung der frühneuzeitlichen Oberschicht mit dem Fokus auf das Erlernen von Fremdsprachen und den theoretischen sowie praktischen Sprachunterricht. Die Fragestellung sieht sich als Forschungsbeitrag zur adelig-fürstlichen Erziehung. Ein Aspekt also, der in den vergangenen Jahren vor allem im französischen und englischsprachigen Raum wissenschaftlich breiten Zuspruch erfuhr (135). Die Publikation knüpft thematisch an inputs des Mitherausgebers Helmut Glück an [1], der mit "Deutsch als Fremdsprache" wichtige Vorarbeiten lieferte. Die ausgewählten Fallbeispiele sind zeitlich und geografisch geordnet und reichen vom Heiligen Römischen Reich über Oberitalien nach Böhmen, Schweden, England, zu Ländern der ungarischen Krone (Kroatien) und Russland. Zwei Essays widmen sich der Sprachbildung weiblicher Adeliger im 17. und 18. Jahrhundert.
Die erfreulich knappe Einleitung der Tagungsveranstalter stellt die AutorInnen vor und zeichnet den Stellenwert von Sprache/ Fremdsprache innerhalb der neuzeitlichen Oberschicht sowie deren Nutzen für gesellschaftlichen Stand und berufliche Karrieren nach. Benjamin Müsegades eröffnet den Reigen der Aufsätze mit einem Beitrag zum Französischunterricht am Übergang von Mittelalter zur Neuzeit mit Fallbeispielen aus Sachsen, Jülich-Kleve und Württemberg. Sprachbildung war dabei an die ritterliche Ausbildung (Pagendienst) gekoppelt und ein "learning by doing" mit Übersetzungspraktiken. Elena Taddei blickt auf Ferrara als Zentrum der italienischen Sprach-und Kulturvermittlung, das aktiv von den Este-Herzögen gefördert wurde und folglich um 1500 das who is who der Geistes- und Naturwissenschaften (Purbach, Regiomontanus) zusammenführte. Taddei zeigt die Bedeutung der italienischen Sprache auf (Handel, Diplomatie) und zeichnet die gewichtige fürstliche Vermittlerrolle nach. Dörthe Buchhester widmet sich dem Sprachunterricht von vier Generationen am Herzogshof in Pommern. Das ausgewertete Archivmaterial gibt Einblicke in die konkrete Unterrichtspraxis mit Vokabelstudium, Auswendiglernen, Wiederholen und spielerischen Aspekten. Martin Holý untersucht die Sprachkenntnisse des böhmischen Adels, die von Deutsch, Italienisch über Französisch reichten und großteils während der standesgemäßen Bildungsreisen erworben wurden, aber auch von native speakern (Erzieher, Hauslehrer) im Hausunterricht vermittelt wurden. Zweck und Sinnhaftigkeit der Grand Tour als Sprachvermittlung bespricht Andreas Flurschütz da Cruz. Ausgesuchte Fallbeispiele zeigen, dass Bildungsreisen, die individuell gestaltet, aber einem tradierten Muster verhaftet waren, nicht alleine dem Spracherwerb dienten. Sprachen wurden bereits zuvor erlernt, die Fahrten dienten schließlich der Kultivierung. Unschärfen zeigt der Beitrag im Umgang mit "Hochadel" und den Habsburgern. Absolvierten auch Mitglieder des Hauses Österreich bis auf Erzherzog Maximilian Franz im Jahre 1775 keine Bildungsreisen, war dies im österreichische Hochadel jedoch durchaus üblich. Nils Jörn nimmt sich des Schweden Gustav Helmfeldt an, der laut seiner Leichenpredigt ein sprachliches Universalgenie gewesen zu sein scheint, und dessen Vielsprachigkeit auf seiner regen Reisetätigkeit beruhte. Der Essay greift aber das Tagungsthema nur rudimentär auf und fokussiert sich zu sehr auf Helmfeldts Biografie und das sogenannte Wismarer Tribunal, ein Gericht für schwedische Reichslehen im Heiligen Römischen Reich. John Gallagher widmet sich der Bildungsreise Philip Percevals und dem Einfluss des ihn begleitenden Erziehungstheoretikers Jean Gailhard. Gallagher betont richtigerweise, dass die basics einer Fremdsprache zuhause durch den "tutor" (Erzieher, Hauslehrer) vermittelt worden waren. Im Ausland wurden native speaker als Privatlehrer zum vertiefenden, fächerübergreifenden Unterricht hinzugezogen und alltägliches (Konversation, Lesen, Kultur) eingebaut. Percevals Erfahrungen publizierte Gailhard im Handbuch The Compleat Gentleman (1678). Andrea Bruschi setzt sich mit dem Spracherwerb der französischen Elite im 17. und 18. Jahrhundert auseinander. Fremdsprachen wurden durch eigene Sprachlehrer vermittelt, die Erfahrungen auf Reisen sammelten. Ihre Kenntnisse wurden dann in theoretischen Schriften festgehalten, die wiederum als Hilfs- und Lehrmittel dienten. Als interprètes du roi nobilitiert, waren die Sprachlehrer in der Hocharistokratie sowie für die königliche Familie tätig. Ivana Horbec und Maja Matasovic untersuchen anhand von Verwaltungsunterlagen und Briefen des kroatischen Adels aus dem 18. Jahrhundert deren Sprachgebrauch. Einprägsam wird die unterschiedliche Verwendung der Sprachen (Latein, Deutsch, Kroatisch) in Verwaltung, Bildung und im Alltag aufgezeigt, wobei die maria-theresianische Zentralisierung einschneidende gesellschaftliche Veränderungen mit sich brachte. Ineta Balode beleuchtet die Kenntnisse der russischen Sprache in der baltischen Elite, die durch die kulturelle Ausrichtung nach Westen und den starken französischen Einfluss nur rudimentär vorhanden waren. Da die Elite nicht russischstämmig war, fehlte jeglicher kultureller Konnex. Vladislav Rjéoutski blickt auf das Russland um 1700 unter Zar Peter I., das durch seine Öffnung nach Westen geprägt war. Sprachen wurden von angeworbenen native speakern - vorzugsweise im Hausunterricht - erlernt. Bemerkenswert ist der Hinweis auf den gleichwertigen Unterricht von Buben und Mädchen. Öffentlich-staatliche Schulen wurden gefördert, woraus die künftige Elite hervorgehen sollte. Die beiden letzten Essais, von Barbara Kaltz und Helga Meise, beleuchten den Fremdsprachengebrauch im Umfeld adeliger Frauen. Kaltz verweist auf vielfältige, unterschiedliche Sprachkenntnisse und streicht die Funktion und Rolle der weiblichen "Sprachlehrerin" (Mutter, Erzieherin) heraus. Auch stellt sie Erziehungsabhandlungen sowie Lehrmethoden weiblicher Autorinnen zur Sprachvermittlung vor. Meise widmet sich hingegen deutschen Fürstinnenbibliotheken, deren fremdsprachige Werke Rückschlüsse auf Sprachkenntnisse und Lehrmethoden der Besitzerinnen liefern sollen. Hier gilt zu hinterfragen, ob fürstliche Bibliotheken wirklich dem tatsächlichen Gebrauch dienten oder nicht doch mehr ein Standes- und Statussymbol waren, mit einem "must have"-Buchbestand.
Die Texte sind durchweg gut lesbar, und die Anmerkungsapparate berücksichtigen rezente fachspezifische Forschungsliteratur. Teilweise sind die Anmerkungen zu ausführlich formuliert und Inhalte hätten ihre Daseinsberechtigung im Fließtext gehabt (u.a. 21, 24f., 35, 51, 55). Redaktionelle Schwächen zeigen sich in den uneinheitlichen Beitragslängen, im Umgang mit Abbildungen, lediglich der Beitrag Jörns hat einen Abbildungsapparat, der Quellenappendix bei Bruschi bleibt singulär (144). Den Anhang des Tagungsbandes bildet eine Liste der Autorenvitas sowie ein Personen-, Sach- und Ortsregister.
Insgesamt liefern die vielfältigen Beiträge einen guten Überblick über den Erwerb von Fremdsprachen. Wie dargelegt wurde, erlernte man bestimmte Sprachen für spezielle Fähigkeiten. Die in der Kindheit und im Schulalter vermittelten Fähigkeiten konnten im Erwachsenenalter, je nach persönlichem Interesse ausgeweitet werden, aber auch wieder verloren gehen. Es ist zudem gelungen, vielfältige didaktische Methoden, die Art und Weise Sprachen zu erlernen, aufzuzeigen. Die Publikation ist eine erfreuliche Ergänzung zur Geschichte frühneuzeitlicher Erziehung, Bildung und Pädagogik mit Fokus auf den Spracherwerb.
Anmerkung:
[1] Helmut Glück: Deutsch als Fremdsprache in Europa. Vom Mittelalter bis zur Barockzeit, Berlin / New York 2002.
Thomas Kuster