John F. Drinkwater: Nero. Emperor and Court, Cambridge: Cambridge University Press 2019, XVIII + 449 S., 11 s/w-Abb., 5 Kt., 4 Tbl., ISBN 978-1-108-47264-7, GBP 32,99
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Die Ursprünge dieses Buches liegen bereits etwas zurück in einem Projekt des Autors, dessen Ziel es war, den "Job" eines römischen Kaisers zu definieren. Im Rahmen dieses Projektes veröffentlichte er 2012 unter anderem den Beitrag "Nero Caesar and the Half-Baked Principate" in dem von Alisdair Gibson herausgegebenen Sammelband "The Julio-Claudian Succession". [1] Schon damals - wie nun auch im vorliegenden Werk - betonte Drinkwater, der ausgewiesener Experte für die Geschichte der Spätantike und des römischen Gallien ist, das von Augustus begründete Prinzipat sei ein problematisches Konstrukt (eben ein "half-baked Principate"), das am ehesten in den Momenten seines Scheiterns verständlich werde. Die Absicht des Autors ist es vor diesem Hintergrund nicht, ein "life and reign" (1) des Prinzeps Nero zu verfassen, sondern "to understand how the Roman Empire was run from the centre in the middle of the first century AD." (1) Entsprechend hat das Buch keinen chronologischen Aufbau, der dem Leben Neros folgt, sondern gliedert sich in drei Teile: I Background, II Assessment, III End.
Im Teil I "Background" liefert Drinkwater Hintergründe in mehrfacher Weise: Er erläutert zum einen die bekannten und vieldiskutierten Quellen- und Rezeptionsprobleme, die sich bei der Bewertung aller 'schlechten' Kaiser stellen. Drinkwater beleuchtet zum anderen intensiv Person und Erbe Agrippinas sowie Neros wechselnde Berater-"Teams". Die Personen und "Power-Groups" in der Umgebung des Prinzeps bilden für ihn einen Schlüssel für das Verständnis des Prinzipats in der Mitte des ersten Jahrhunderts.
Im Teil II "Assessment" dekliniert Drinkwater die klassischen Vorurteile gegenüber Nero in detailreichen Einzelstudien durch: Sind die politischen Morde Nero anzulasten? Drinkwater verneint dies weitgehend, "killings were due to political necessities" (232), heißt es unter anderem zusammenfassend zu den politischen Morden der Jahre 62 bis 68 n.Chr. Gab Nero den Auftrag, Rom in Brand zu stecken, oder gab es unter ihm eine erste Christenverfolgung in Rom? Beides weist Drinkwater zurück, kommt aber mit Tacitus zu dem Schluss, die Christen seien als Brandstifter verfolgt worden. Sind die Vorwürfe der moralischen Verkommenheit gerechtfertigt oder war der Kaiser schlicht verrückt? Auch dies negiert Drinkwater. Schließlich widmet sich ein Unterkapitel dem Vorwurf, Nero habe die Finanzen des Reiches geschröpft, und kommt auch in diesem Punkt zu einer Entlastung. Viele dieser Argumentationen hat man in der einen oder anderen Form schon gelesen. Durchaus problematische erscheint die Bezugnahme auf moderne Konzepte der Psychoanalyse, mit denen der Autor die Persönlichkeit Neros ausdeutet. Zwar kann man Drinkwater durchaus darin folgen, dass diese Ideen Hilfskonstruktionen beim Verständnis mancher Handlungen des Kaisers sein können, man hätte sich aber gewünscht, der Autor wäre mit einigen Absätzen auf die grundsätzlichen Fragen der Anwendbarkeit dieser Ansätze auf antike Kontexte eingegangen.
Im Teil III "End" werden die Ereignisse und Themenkomplexe rund um Neros Griechenlandreise 66/67 n.Chr. und seinen Sturz im Jahr 68 n.Chr. in den Mittelpunkt gestellt. Hier ist es nach Drinkwaters Auffassung tatsächlich auch Neros Versagen, das zum Ende der julisch-claudischen Dynastie führt, denn der Prinzeps vermag es nicht, sich militärisch gegen den Aufstand zu stemmen und er hatte keinen Erben vorzuweisen. Beide Aspekte werden aber auf einer systemischen Ebene wieder als Schwachstellen des augusteischen Prinzipats begriffen.
Drinkwaters Ansatz birgt viel Potential, stellt er sich doch in die Tradition von Elsner/Master [2] und Champlin [3], die überzeugend eine grundlegende Neubewertung des neronischen Prinzipats vornahmen. Man vermisst allerdings die Konsequenz dieses Ansatzes bei Drinkwater, wie sie beispielsweise auch Osgood in seiner Claudius-Biographie [4] umgesetzt hat. Im Gegensatz zu Osgoods konsequent fiktionaler Deutung der Quellen, selektiert Drinkwater die literarische Überlieferung letztlich doch wieder in glaubwürdig und nicht glaubwürdig und konstruiert so seinen eigenen Nero: "My Nero is neither the Nero of the main source tradition nor that of most modern reconstruction." (416). Dieser Nero "is never in charge of the Empire" (416). Das Reich, so Drinkwater, sei nie von Nero selbst, sondern immer von wechselnden Teams aus Mutter, Ehefrauen, Erziehern, Prätorianern, Freigelassenen und weiteren Beratern regiert worden. Diese Regierungsteams hätten sich auf den Rat von Experten gestützt. Die Politik dieser Zeit sei daher pragmatisch und erfolgreich gewesen. Selbst Neros Scheitern sei letztlich nicht sein eigenes Verschulden gewesen, sondern lag im System des augusteischen Prinzipats begründet. Der Mensch Nero verharrt bei Drinkwater ebenso im Stadium des Defizitären wie der Prinzeps Nero, der "a back seat in government" (416) besetzte. Drinkwaters Nero bleibt das unerzogene Kind, "occasionally breaking away from the directions of his advisers to assert is will" (418), mit posttraumatischen Belastungsstörungen, vielen Selbstzweifeln und einem finalen Burn-out.
Das Buch ist keine klassische Biographie, es eignet sich nicht als Einstieg in Zeit und Leben des letzten julisch-claudischen Kaisers. Es wird kein chronologisch geordneter Überblick über die Herrschaftszeit Neros geboten, vielmehr werden einzelne Ereignisse wie beispielsweise die Ermordung Agrippinas oder die Pisonische Verschwörung auf der Basis der Quellen und wichtiger Sekundärliteratur ausgedeutet. Dies aber stets vor dem Hintergrund der Hauptthese einer erfolgreichen Herrschaft der Regierungsteams ohne Nero.
Das Buch offenbart letztlich auch die Grenzen eines biographischen Zugangs zu diesem letzten Prinzeps der julisch-claudischen Dynastie. Die Ambivalenz der Quellen erlaubt es sicherlich, einzelne Ereignisse durch eine Kontrastierung mit nicht-literarischen Quellen oder ein Gegen-den-Strich-Lesen neu zu deuten, sie macht es im Grunde aber beinahe unmöglich, ein stringentes, kohärentes neues Bild dieses Kaisers zu konstruieren. Dieser Nero bleibt Drinkwaters Nero, der aber gerade deshalb neue Diskussionen anstoßen kann.
Anmerkungen:
[1] Drinkwater, J.F.: Nero Caesar and the Half-Baked Principate, in: A.G.G. Gibson (ed.): The Julio-Claudian Succession. Reality and Perception of the Augustan Model, Leiden 2012, 155-173.
[2] Elsner, J. / Masters, J. (eds.): Reflections of Nero. Culture, History & Representation, London 1994.
[3] Champlin, E.: Nero, Cambridge, Mass. / London 2003.
[4] Osgood, J.W.: Claudius Caesar: Image and Power in the Early Roman Empire, Cambridge / New York 2011.
Babett Edelmann-Singer