Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, 2. Auflage, Berlin: Suhrkamp 2019, 286 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-518-42894-8, EUR 22,00
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30 Jahre nach dem Mauerfall hat Steffen Mau ein Buch zum "Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft" vorgelegt. Was dieses Buch von anderen geschickt platzierten Jubiläumspublikationen unterscheidet, sind gleich zwei Kniffe, auf die der Autor zurückgreift: Zum einen ist Steffen Maus ostdeutsche Gesellschaftsgeschichte der "Wende" nach Didier Eribons vielgelobtem Buch "Rückkehr nach Reims" [1] ein weiterer Versuch, die eigene Biografie als Ausgangspunkt für eine soziologische Studie zur Hand zu nehmen. Zum anderen stellt Mau die Rostocker Großwohnsiedlung Lütten Klein, gleichsam titelgebend, in den Fokus. Auf diese Weise macht der Autor den Ort seiner Kindheit und Jugend zu einem Brennglas für die gesellschaftlichen Auswirkungen der Transformation in ganz Ostdeutschland. Die Geschichte gliedert er in ein Vorher und ein Nachher - der Systemumbruch von 1989 bildet dabei den Dreh- und Angelpunkt. Auf gute Gründe für dieses Vorgehen muss der Lesende nicht lange warten.
Lütten Klein war ein Paradebeispiel sozialistischer Lebensweise im Großformat. Nach dem ersten Spatenstich im November 1962 wurde zwischen dem alten Rostocker Stadtkern und dem Ostseebad Warnemünde eine riesige Plattenbausiedlung aus dem Boden gestampft. Zehn Jahre später lebten hier bereits knapp 33.000 Menschen, Ende der 1970er Jahre waren es über 40.000. Mit Großbauprojekten wie diesen zielte die SED-Gesellschaftspolitik auf die soziokulturelle Integration aller sogenannten Werktätigen. Während sich tagsüber der Großteil des sozialen Lebens in den Volkseigenen Betrieben abspielte, waren die großen Blocks von Lütten Klein nach Feierabend das Zuhause von Angehörigen aller Schichten und Berufsgruppen. Den Propagandalosungen Ulbrichts zufolge sollten sie ein besonderes Gefühl der Zugehörigkeit innerhalb der "sozialistischen Menschengemeinschaft" vermitteln (27). Mit dem Jahr 1989 und dem Ende der DDR änderte sich auch dort alles.
Die Gliederung des Buches ist an ebendieser Zäsur ausgerichtet. An ihr kommt es zu den Brüchen und Umbrüchen in praktisch jeder ostdeutschen Biografie, und an ihr teilt sich Maus Studie in zwei große Teile. In dem ersten Teil möchte Mau das "Leben in der DDR" nachzeichnen. Hier stellt er die Gegebenheiten des Alltags und die Erfahrungswelten der DDR-Bürger in den Fokus, um in einem zweiten Teil sowohl den plötzlichen Zusammenbruch des Regimes zu beleuchten, als auch die verschiedenen Facetten der darauffolgenden "Transformationen" mit ihren bis in die Gegenwart reichenden problembehafteten Auswirkungen zu untersuchen.
Maus Bericht ist besonders im ersten Teil von persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen gespickt. Dort beschreibt er das durchschnittliche Leben im "Arbeiter- und Bauernstaat". Die Repressalien des SED-Regimes werden nur am Rande thematisiert, vielmehr geht es dem Autor darum, System und Alltagserfahrung nicht gleichzusetzen. Die weitreichenden Verstrickungen zwischen Privatem und dem System bleiben dabei widersprüchlich im Raum stehen: "Auch die Stasi, soweit man von ihr nicht als feindliches Subjekt eingestuft worden und von ihren Zersetzungsaktivitäten unmittelbar betroffen war, blieb häufig im Hintergrund, auf Beobachtungsposten. Wie stark sich das System der Bespitzelung in das soziale Gewebe hineingefressen hatte, war vielen damals nicht klar." (101) Sobald der Mauerfall in der chronologischen Erzählung näher rückt, scheint zunehmend durch, wie der Autor selbst Abstand von der alten DDR nimmt. Man habe "die Dinge ohne innere Überzeugung" mitgemacht (84), wenn der sozialistische Nachwuchs in der Schule oder beim Militärdienst mit hohlen Phrasen und Appellen auf Linie gebracht werden sollte. Ob sich das so verallgemeinern lässt, muss zumindest bezweifelt werden.
Diese biografisch bedingte, einseitige Sicht fällt umso mehr auf, als sie im zweiten Teil des Buches in dieser Form nicht mehr vorkommt. Maus persönlicher Bericht endet gewissermaßen mit dem Ende der DDR. Die Nachwendezeit im zweiten Teil ist aus distanzierter Perspektive beschrieben, mit dem Blick eines Soziologen. Als einer der "Anpassungsfähigen", die es nach 1989 "im Westen geschafft haben", ist Maus biografischer Background nicht mehr Gegenstand der Erzählung über das Ostdeutschland der Nachwendegesellschaft. Der Klappentext des Buches ließe sich um diesen Hinweis zugespitzt ergänzt folgendermaßen lesen: "30 Jahre nach dem Mauerfall zieht er [im ersten Teil] eine persönliche und [im zweiten Teil] eine sozialwissenschaftliche Bilanz." Zwischen den beiden Teilen findet ein schleichender Perspektivwechsel statt, in dem der Autor von der Rolle eines "Mitlebenden" in die des Beobachtenden wechselt.
Am Beispiel von Lütten Klein möchte Mau sowohl die soziokulturelle Entwicklung als auch die Mentalitäten der Ostdeutschen erklären. Seiner Meinung nach ließen sich "zwei Rechnungen [der Deutschen Einheit] aufmachen [...] - mit jeweils anderen Folgen für die mentale Lage: einerseits die Gewinnrechnung, die die Verbesserung von Lebensstandard und Konsummöglichkeiten ins Zentrum stellt, andererseits eine Verlustrechnung, die sich auf die relative Stellung im Statusgefüge bezieht". (169) Aufgrund zunehmend versperrter Aufstiegschancen, so Maus Analyse, hatte sich die DDR besonders in der letzten Dekade ihres Bestehens selbst den Boden der Legitimität unter den Füßen weggezogen. Dann, im Laufe des folgenden Jahres, mussten die DDR-Bürger, die bei den Protesten im Herbst 1989 ihre Handlungsfähigkeit gerade erst entdeckt hatten, bald merken, dass ein "Prozess der kollektiven Unterordnung unter die Spielregeln der Bonner Politik" (123) begonnen hatte. Auch dies sei ein Grund für das vielfach unter Ostdeutschen zu beobachtende Gefühl von fehlender Anerkennung, von Fremdheit und für eine weit verbreitete, generelle Unzufriedenheit. Solche Ressentiments als weitreichende Folge der "Wende" konnten auch den Nährboden für Rechtsextremismus und Rechtspopulismus bilden. Der Autor beobachtet das Empfinden der Fremdbestimmung insbesondere bei einer "lost generation" (202), nämlich derjenigen Alterskohorte der zwischen 1940 und 1960 Geborenen, die im Zuge der wirtschaftlichen Umbrüche in besonderem Maße von Massenarbeitslosigkeit betroffen war.
So anschaulich die persönliche Perspektive ist, so plausibel auch der soziologische Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen ist, so ungenau bleibt die Studie doch an manchen Stellen. Gerade, wenn es um die wirtschaftlichen Umwälzungen geht, ist zu bemerken, dass Mau weder mit dem Blick eines jungen DDR-Bürgers noch mit dem Blick eines Soziologen über die Reproduktion undifferenzierter Narrative hinauskommt. Jenes vom mutwilligen "Plattmachen" (175) steht hierbei im Fokus: "So wie Betriebe wurden auch Menschen in ihren beruflichen Biografien stillgelegt." (155) Abgesehen von dieser ärgerlichen Plattitüde ist das Buch auch deshalb so kurzweilig, weil es vielleicht gerade so viel Input liefert, wie es braucht, um die groben Entwicklungsstränge zu verdeutlichen. Trotz mancher Redundanzen zeigt der Autor anhand vieler Facetten die soziokulturellen Zusammenhänge zwischen der DDR-Gesellschaft und der Nachwendegesellschaft mit all ihren durch Milieus und Mentalitäten verursachten Problemen. Dabei schafft es Mau, plausibel aufzuzeigen, wie das titelgebende Lütten Klein im Nordosten des Landes eine für Ostdeutschland typische Entwicklung durchlief: "Von der Errichtung als Vorzeigesiedlung [...] über den Attraktivitätsverlust und die Abwanderung bis zur Herausbildung einer Mischung aus Normalisierung, Benachteiligung und Überalterung" (248). Resümierend möchte Steffen Mau folgendes hervorheben: "Die in Ostdeutschland erkennbaren gesellschaftlichen Spannungen sind mehr als eine Missstimmung übellauniger und undankbarer Ostdeutscher, die anderen wenig gönnen. Sie sind Ausdruck gesellschaftlicher Frakturen, von denen viele in der DDR-Gesellschaft schon angelegt waren und die im Zuge der gesellschaftlichen Transformation nicht geheilt, sondern häufig noch vertieft wurden." (244) Man muss mit dem Autor nicht in jedem einzelnen Punkt übereinstimmen. Dennoch ist Lütten Klein ein lohnendes Buch über die Zäsuren der Wendezeit und die Brüche in den ostdeutschen Biografien, aus dem die weitreichenden und bis heute sichtbaren Folgen deutlich hervorgehen.
Anmerkung:
[1] Didier Eribon: Retour à Reims, Paris 2009; vgl. auch die deutsche Fassung: Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, Berlin 2016.
Eva Lütkemeyer