Joseph M. Siracusa / Hang Thi Thuy Nguyen (eds.): Richard M. Nixon and European Integration. A Reappraisal, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2018, VIII + 331 S., 4 Farbabb, 5 Tbl., ISBN 978-3-319-75661-5, EUR 149,79
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Präsident Richard Nixon und sein außen- und sicherheitspolitischer Berater Henry Kissinger stellten das bipolare Weltbild infrage, das die Nachkriegsjahre bis dahin dominiert hatte. In der neuen Weltordnung waren nach ihrer Ansicht nun China, Japan und Westeuropa als globale Machtzentren neben die USA und die Sowjetunion getreten. Die Regierung Nixon betrachtete die europäische Integration daher weniger als Element zur Einhegung des sowjetischen Expansionsdrangs, sondern blickte durchaus auch kritisch auf die Konkurrenz, welche die Wirtschaftsmacht der Europäischen Gemeinschaft (EG) für die USA darstellte. Vor diesem Hintergrund hinterfragte die Nixon-Regierung die bisherige amerikanische Europapolitik und versuchte die amerikanisch-europäischen Beziehungen neu zu definieren.
Um diesem Thema detailliert nachzugehen, werteten Joseph M. Siracusa, Professor für Human Security and International Diplomacy am Royal Melbourne Institute of Technology, und Hang Thi Thuy Nguyen, Dozent an der Diplomatic Academy of Vietnam, umfangreiches amerikanisches Archivmaterial aus, konnten sich aber auch auf bereits erschienene Studien zum Thema stützen. [1] Zunächst zeichnen sie die amerikanische Europapolitik bis 1968 nach. Entlang der etablierten Forschungsmeinung machen sie als zentrale Motive für die amerikanische Unterstützung der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem das Bedürfnis aus, darüber das amerikanische politische und wirtschaftliche Modell auch in Europa zu etablieren. Zudem nahmen die Vereinigten Staaten an, nur ein starkes Europa könne die Sowjetunion eindämmen. Ein starkes Europa war jedoch auf ein wirtschaftlich starkes Deutschland angewiesen, das durch die europäische Integration kontrolliert werden sollte. Außerdem würde die europäische Integration die amerikanischen Lasten nach dem Zweiten Weltkrieg verringern. Insbesondere die Marshallplan-Hilfe der USA trug somit maßgeblich zur schnellen wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung Westeuropas bei. Die Gründung der NATO und die amerikanische Unterstützung für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgten denselben Zielen.
Mit der Amtsübernahme von Richard Nixon richtete sich die amerikanische Europapolitik nicht nur inhaltlich neu aus, auch der Politikstil und außenpolitische Entscheidungsprozess änderten sich. Siracusa und Nguyen bestätigen mit ihrer Analyse die verbreitete Annahme, dass viele wichtige Entscheidungen nun im Weißen Haus und über geheime back channels unter Umgehung des Außenministeriums und des Kongresses getroffen wurden. Der außenpolitische Ansatz von Nixon und Kissinger war von Realismus gezeichnet und zielte auf ein internationales Gleichgewicht und die Stärkung nationaler amerikanischer Interessen ab. Um dieses Gleichgewicht angesichts erstarkender neuer Machtzentren zu erreichen, forderten Nixon und Kissinger, dass nun auch die Europäer zunehmend sicherheitspolitische Verantwortung in der multipolaren Welt übernehmen müssten. Zugleich befürchteten sie jedoch eine ökonomische Übermacht der EG. Nixon und Kissinger versuchten daher die von ihnen in anderen Kontexten erprobte linkage-Politik anzuwenden, indem sie amerikanische sicherheitspolitische Zugeständnisse an die Europäer an wirtschaftliches Entgegenkommen der EG knüpften.
Während Nixon und Kissinger sowohl mit der Sowjetunion als auch mit China eine Normalisierung der Beziehungen anstrebten und es gelang, die USA aus dem Vietnamkrieg zu lösen, verschlechterten sich die Beziehungen zur EG in mancher Hinsicht. Angesichts einer relativen wirtschaftlichen Schwäche der USA und einer ökonomisch erstarkenden EG traten Konflikte insbesondere im wirtschaftlichen und währungspolitischen Bereich auf. Hier bedeutete die Aufgabe des Bretton-Woods-Systems durch die Nixon-Regierung sicherlich die bedeutendste Entscheidung für die EG auf dem Weg zur Währungsunion. Ebenso erschütterten divergierende Interessen in der Nahost- und Ölkrise von 1973/74 die transatlantischen Beziehungen.
Zwar versuchte Kissinger 1973 mit dem von ihm verkündeten Year of Europe, den transatlantischen Beziehungen neue Impulse zu geben - jedoch zu amerikanischen Konditionen. So sollte die Vertiefung der EG in Konsultation mit den USA und unter amerikanischer Führung vorangetrieben werden. Die Europäer zeigten sich wenig geneigt, den USA in ihrer wirtschaftlich angespannten Lage zu helfen und gleichzeitig bei der europäischen Integration Rücksicht auf den atlantischen Partner zu nehmen. So scheiterte auch die Atlantische Deklaration, welche die von den USA gewünschten transatlantischen Konsultationen und die Verknüpfung wirtschaftlicher, politischer und sicherheitspolitischer Themen hätte regeln sollen, an den divergierenden Interessen der Beteiligten. Bei dem Versuch, eine einheitliche Politik mit einer Stimme zu entwickeln, formulierte die EG vielmehr eine europäische Identitätserklärung. Dass 1974 auf Schloss Gymnich dennoch ein Kompromiss gefunden werden konnte, der die Konsultation der Vereinigten Staaten vor außenpolitischen Entscheidungen der EG vorsah, ist vor allem dem Druck geschuldet, den die USA auf die Bundesrepublik ausübte. Trotz der beschriebenen Konflikte - so schließen Siracusa und Nguyen - blieben auch in der Ära Nixon-Kissinger die transatlantischen Verbindungen eng.
Der Band liefert detailreiche Einsichten in die gewandelte Europapolitik unter Richard Nixon und Henry Kissinger. Dabei fällt die Orientierung in dem Buch jedoch nicht immer leicht. So werden in den einzelnen Kapiteln jeweils verschiedene Konfliktbereiche angesprochen, die häufig nicht aus dem Titel ersichtlich sind. Hier hilft dankenswerterweise ein Sach- und Personenregister weiter. Bei der Beschreibung der politischen, sicherheitspolitischen und ökonomischen Konflikte gibt es naturgemäß Überschneidungen, manche Redundanz wäre aber sicherlich vermeidbar gewesen. Leider ist wenig über die Beziehungen Nixons zu Willy Brandt, Georges Pompidou und Edward Heath zu erfahren. Dies ist verwunderlich, da diese europäischen Staatsmänner nahezu zeitgleich mit ihm von 1969/70 bis 1974 Regierungsverantwortung trugen und es ein Signum von Nixons Europapolitik war, auf bilateralen Kanälen Einfluss auf die einzelnen Partner nehmen zu wollen. Insbesondere erstaunt, dass Brandts Ostpolitik keinerlei Erwähnung findet, stand diese doch in enger Verbindung zu den weltpolitischen Umbrüchen, die die Neuausrichtung der amerikanischen Europapolitik hervorriefen. Diese etwas verengte Sicht wäre vermeidbar gewesen, wären auch stärker Literatur und Quelleneditionen hinzugezogen worden, die die europäische Sicht beleuchten. [2] Trotz dieser Kritik ist die Studie lohnenswert für alle, die weitere Details zu den transatlantischen Beziehungen in der Ära Nixon-Kissinger erfahren möchten.
Anmerkungen:
[1] Luke A. Nichter: Richard Nixon and Europe. The Reshaping of the Postwar Atlantic World, New York 2015; Niklas H. Rossbach: Heath, Nixon and the Rebirth of the Special Relationship. Britain, the U.S. and the EC, 1969-74[TG1], Basingstoke 2009, vgl. Rezension auf www.sehepunkte.de/2011/09/18733.html [10.06.2020]; Alistair Horne: Kissinger. 1973, the Crucial Year, New York u. a. 2009; Catherine Hynes: The Year That Never Was. Heath, the Nixon Administration and the Year of Europe, Dublin 2009; Matthias Schulz / Thomas A. Schwartz (eds.): The Strained Alliance. U.S.-European Relations from Nixon to Carter, Cambridge u. a. 2010.
[2] So sind beispielsweise folgende Akteneditionen aufschlussreich: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, 1973, 3 Bde., bearb. v. Matthias Peter u. a., München 2004; Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, 1974, 2 Bde., bearb. v. Daniela Taschler / Fabian Hilfrich / Michael Ploetz, München 2005; Documents on British Policy Overseas. The Year of Europe: America, Europe, and the Energy Crisis, 1972-1974. Series III, Volume IV, bearb. v. Keith Hamilton und Patrick Salmon, London / New York 2006. Vgl. auch Jan van der Harst (Hg.): Beyond the Customs Union. The European Community's Quest for Deepening, Widening and Completion: 1969-1975, Bruylant u. a. 2007; Daniel Möckli: European Foreign Policy during the Cold War. Heath, Brandt, Pompidou and the Dream of Political Unity, London / New York 2009.
Judith Michel