Rafael Arnold / Michael Busch / Hans-Uwe Lammel (Hgg.): Der Rostocker Gelehrte Oluf Gerhard Tychsen (1734-1815) und seine internationalen Netzwerke, Hannover: Wehrhahn Verlag 2019, 304 S., 7 Farbabb., ISBN 978-3-86525-699-7, EUR 29,50
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Oluf Gerhard Tychsen gehörte weit über seine akademischen Wirkungsstätten hinaus - die Universitäten Bützow und Rostock - zu den bekanntesten und einflussreichsten Orientalisten seiner Zeit. Dabei hatte er persönlich das Morgenland kein einziges Mal bereist. Tychsens zeitgenössische Reputation resultierte dagegen zu großen Anteilen aus seinen umtriebigen Aktivitäten als Netzwerker: Einige tausend Briefe mit über 200 Korrespondenzpartnern lassen sich mittlerweile nachweisen, die ihm ferner beim Aufbau seiner Privatbibliothek und seinen umfangreichen Münzsammlungen zuträglich waren. Trotz allem konnte er post mortem nie den Rang eines der breiten Historikerzunft, geschweige denn dem Laien geläufigen Gelehrten der Übergangszeit vom 18. auf das 19. Jahrhundert einnehmen. Über die Grenzen der Hansestadt Rostock, wo ein Gutteil des Nachlasses des ehemaligen Professors lagert, hat Tychsen nur wenig Beachtung erfahren. Der hier anzuzeigende Sammelband, der die Akten der 2015 dort abgehaltenen gleichnamigen Tagung versammelt, fasst den bisherigen Wissensstand nun zusammen und zeigt gleichzeitig neue Forschungsperspektiven zur Person und deren Wirken auf.
Auf der Suche nach vermeintlichen Vorläufern der modernen Wissenskultur ist Netzwerkforschung längst zu einem inflationär gebrauchten Methodenbegriff geworden. Für die Frühe Neuzeit gilt nach wie vor der Brief als das zentrale kommunikationsgeschichtliche Objekt, dessen Streuung das Koordinatensystem der zwischenmenschlichen Verflechtungen abzubilden vermag. Dabei weichen in erster Linie um Quantität bemühte Vorhaben vermehrt solchen, die die qualitative Ebene der Erforschung von damaligen Sozialpraktiken in den Mittelpunkt stellen und den überlieferten Briefbestand themenorientiert verarbeiten. Der von Rafael Arnold, Michael Busch, Hans-Uwe Lammel und Hillard von Thiessen herausgegebene Band konzentriert sich in diesem Sinne auf die Betrachtung dreier Handlungsfelder, die im Wesentlichen Tychsens wissenschaftliche Bedeutung zementieren.
Zunächst wird der Fokus gelegt auf die Herausbildung der Orientalistik als zunehmend eigenständigem Wissensbereich am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Mit der Aufnahme von Briefwechseln war es Tychsen daran gelegen, nicht allein die soziale Etikette zu bedienen, um seine Zugehörigkeit zur res publica litteraria zu legitimieren. Dahinter stand ebenso die Verfolgung praktischer Zweckmäßigkeiten. In Hillard von Thiessens Beitrag über die langjährige Beziehung von Tychsen mit dem Orientreisenden und Kartografen Carsten Niebuhr wird etwa die funktional divergierende Ebene eines Austausches exemplarisch verdeutlicht, wobei der daraus anvisierte Ertrag sowohl in materieller als auch in symbolischer Währung ausfallen konnte. Der zweite Hauptteil nimmt hingegen die Aktivitäten und Kontakte des Rostocker Professors zum Judentum genauer in den Blick. Der Protestant Tychsen pflegte unter anderem jahrelang Kontakt zu jüdischen Studenten, deren akademischen Weg er begleitete und mitunter gezielt steuerte. Netzwerktheoretisch gesprochen fungierte Tychsen diesbezüglich als "weak tie" [1], ein Scharnier von elementarer Bedeutung, das das strukturelle Loch zwischen verschiedenen Netzwerken - hier den christlichen und jüdischen Gemeinschaften - zu überbrücken vermochte (siehe den Beitrag von Małgorzata Anna Maksymiak und Hans-Uwe Lammel). Im Gegenzug stieg Tychsens Reputation als Fachmann für jüdische Glaubensfragen bis in die hofnahen Kreise Mecklenburgs, was seine Rolle als gefragter Gutachter im Rahmen der Beratungen um ein Emanzipationsedikt im Jahr 1813 herausstreicht (siehe den Beitrag von Michael Busch). Im dritten und abschließenden Panel wird Tychsens Auftreten und Aktionsradius als Numismatiker innerhalb der res publica litteraria behandelt. Insbesondere für die Beschaffung von orientalischen Münzen erwies sich die Integration in entsprechende Korrespondenz- und Tauschkreise als unerlässlich, in die er ab den ausgehenden 1760er-Jahren Einzug erhielt und sich darin durchaus ertragreich zu bewegen verstand (siehe den Beitrag von Lutz Ilisch). Dies bildete schließlich das Fundament für seine Sammeltätigkeit und für seine veritable Grundlagenforschung im Bereich der orientalischen Philologie.
Insgesamt eröffnet das aus 13 Aufsätzen bestehende Konvolut zahlreiche Einblicke in die damaligen zwischenmenschlichen Sozialpraktiken gelehrter Persönlichkeiten, die sich in einem sich stetig neu austarierenden Geflecht von patronalen Abhängigkeitsverhältnissen zum Prestige- und Materialerwerb bewegen mussten. Am konkreten Beispiel des Rostocker Orientalisten Oluf Gerhard Tychsen skizziert die Summe der vorliegenden Einzelbeiträge eine breite Spanne performativer Facetten, mit denen es dem vermeintlichen scientific outsider aus der mecklenburgischen Provinz gelang, sich einen Namen als europaweit anerkannter Orientalist zu machen und vielsprachig in diversen Wirkungskreisen quer über den Kontinent zu agieren. Dabei unterliegen der Protagonist und sein Handeln keineswegs einem glorifizierenden Darstellungstopos. Sowohl auffallende menschliche Züge seines "Stil[s] geradezu barocker Eitelkeit" (235) als auch dilettantische Unkenntnisse und Fehltritte auf akademisch-wissenschaftlicher Bühne bleiben dem Leser nicht vorenthalten. Allen voran die sogenannte "Vella-Affäre", die Mitte der 1780er-Jahre in Gelehrtenkreisen hohe Wellen schlug, nachdem Tychsen die gefälschten Manuskripte und Münzen des aus Valletta stammenden Ordenskaplans Giuseppe Vella mehrfach öffentlich verteidigt hatte, findet an mehreren Stellen eingehende Betrachtung.
Tatsächlich liefert der Tagungsband keine erschöpfende Darstellung Tychens als Korrespondent respektive als Netzwerker. Auffallend ist beispielsweise, dass seine Ernennung zum Ehrenmitglied zahlreicher renommierter Sozietäten und mithin der sich daraus ergebende Mehrwert aus diesen Verflechtungen allenfalls punktuell thematisiert werden. Die vorgenommene triadische Aufteilung des Inhalts reflektiert methodisch die zentralen Säulen seines praktischen Tätigkeitsbereichs, eingebettet in die Analyse der jeweils von Tychsen dazu unterhaltenden personellen Beziehungsgeflechte. Dieser stringent verfolgte Ansatz trägt schließlich dazu dabei, dass der Tagungsband nicht allein den Kenntnisstand zur Bedeutung des Rostocker Professors auf der internationalen Bühne reichhaltig dokumentiert, sondern darüber hinaus die damit verknüpften habituellen Gelehrtenpraktiken in den Blick nimmt; eine bereichernde Darstellung zur Wissens- und Kulturgeschichte an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.
Anmerkung:
[1] Grundlegend dazu: Mark S. Granovetter: The Strenght of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78 (1973), 1360-1380.
Marc Banditt