Julian zur Lage: Geschichtsschreibung aus der Bibliothek. Sesshafte Gelehrte und globale Wissenszirkulation (ca. 1750-1815) (= Wolfenbütteler Forschungen; 169), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, 511 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11688-6, EUR 72,00
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Julian zur Lage hat sich in seiner umfassenden Dissertation Globalhistoriographien des 18. Jahrhunderts, die aus der Distanz verfasst wurden, gewidmet. Der "sesshafte Gelehrte", der aus dem Lehnstuhl eine Weltgeschichte schreibt, begibt sich unzweifelhaft in einen Widerspruch. Er beschreibt Orte, ohne sie gesehen zu haben, besitzt keine Lokal- und meist auch nicht die entsprechenden Sprachkenntnisse. Aber der Historiker kann nicht jeden Ort, den er beschreibt, kennen. Er ist also - mehr oder weniger - darauf angewiesen, Berichte anderer auszuwerten und sie quellenkritisch zu prüfen, betreibt Geschichtsschreibung aus der Bibliothek. Die Diskrepanz und die im 18. Jahrhundert anschwellende Auseinandersetzung zwischen "Lehnstuhlgelehrten" und reisenden Forschern ist das Thema der Arbeit zur Lages. En passant präsentiert er eine erste zusammenhängende Erforschung der Biographie und des historiographischen Werks des Braunschweiger und Helmstedter Historikers Julius August Remer.
Die Arbeit ist aufgeteilt in drei unterschiedlich starke Großkapitel zum Modell des sesshaften Gelehrten und der zeitgenössischen Reiseberichtskritik (32 S.), zu drei Fallbeispielen (Cornelius de Pauw, William Robertson, Johann Gottfried Herder; 157 S.) und zu Remer (154 S.), gerahmt von einer Einleitung zum theoretischen Stand und einem knappen Fazit, dem ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (84 S., in dem leider die Vornamen der Autoren am Anfang des Eintrags stehen, was bei der schnellen Suche irritiert) sowie ein Personenregister folgen.
Die Einleitung fasst theoretisch Grundlegendes zur sesshaften Gelehrsamkeit und zur Reiseberichtskritik im Gefolge Rousseaus, der forderte, dass angesichts ihrer Interessen die Berichte der Reisenden kritisch zu prüfen seien, zusammen. Da sich der folgende Abschnitt des Buches ebenso wie die Fallbeispiele und das Kapitel zu Remer auch mit dieser Fragestellung, wenn auch konkretisiert, beschäftigen, konnte der Autor nicht immer eine gewisse Redundanz vermeiden. Gleich am Anfang stellt zur Lage heraus, dass die sesshafte Gelehrsamkeit im 18. Jahrhundert weiterhin prägend und noch kein Bruch des Werts von überliefertem Wissen festzustellen sei. Dennoch wird in der Aufklärungsepoche die Vielwisserei der Polyhistoriker als nutzlose Pedanterie denunziert, der der praktische Gelehrte im Amt gegenübersteht. Interessant wäre es gewesen, diese widerstreitenden Praktiken in einem kurzen Vergleich gegenüberzustellen, doch ist dies nicht Intention der vorliegenden Arbeit. Sie zielt auf eine Untersuchung der Funktionsweisen sesshafter Gelehrsamkeit und stützt sich dabei auf ganz unterschiedliche Quellentypen: Neben den eigentlichen Historiographien sind dies Bibliotheks- und Auktionskataloge, Ausleihverzeichnisse, Notizen und Korrespondenzen. Theoretisch will zur Lage Latours Idee von den "immutual mobiles", postkoloniale Aufklärungskritik (Chakrarvorty Spivak, Kapil Raj) und eine globale Perspektive der Aufklärung (Sebastian Conrad) zusammendenken, doch ist die Arbeit letztlich weniger theoretischer Neuansatz als eine gründliche und begrüßenswerte Untersuchung, Auswertung und Einordnung der Quellen. Fruchtbar gemacht wird auf jeden Fall Rajs Zirkulationstheorie: Das Denken der (kolonialen und reisenden) Peripherie verändert letztlich das (europäische bzw. kolonialistische) Zentrum.
An Hand der Fallbeispiele dekliniert zur Lage den zeitgenössischen Streit zwischen sesshaften und reisenden Gelehrten bzw. Forschern vor Ort und dessen Entwicklung durch. Die Beispiele sind exzellent gewählt. De Pauw, Kanoniker in Xanten und intellektuell eingebunden in die Kreise um Friedrich II., betrachtete seine radikale Sesshaftigkeit und Textkritik als Grundlage einer objektiven und wahrhaft aufgeklärten Geschichtsschreibung, hielt persönliche Erfahrung für nutzlos und attestierte Amerika eine geographisch und klimatisch bedingte Degeneration, die selbst die Siedlungen der europäischen Kolonisten einschloss - weshalb sein ihm zugeschriebener Rassismus (98) zumindest keine essentielle Grundlage besitzt. Robertson, Direktor der Universität Edinburgh, knüpfte in seiner "History of America" an diese Haltung an, schuf jedoch für die Arbeit an den "Disquisition concerning the knowledge which the ancients had of India" ein Netzwerk zur Beschaffung von Dokumenten, um Reiseberichte und Kenntnisse lokal tätiger, europäischer Forscher einzubeziehen. Herder schließlich vertrat das Prinzip der Arbeitsteilung, indem er sich auf die Ergebnisse Reisender (Georg Forster, Carsten Niebuhr) stützte, diese jedoch zu Beschreibern deklarierte, während er sich selbst in der Position des analytischen Erklärers sah. Bemerkenswert sind die Frontlinien, die sich in diesen Streitigkeiten auftaten: Die Vertreter einer aufklärerisch-objektiven, sesshaften, eurozentrischen Historie vertraten hinsichtlich Amerika und Asien zwar eine Degenerationsthese, hatten jedoch eine antikoloniale Intention, während karibische Plantagenbesitzer wie Bryan Edwards die Degenerationsthese abwiesen, gar eine essentielle Überlegenheit der Weißen verneinten, dennoch aber Kolonialismus und Sklaverei verteidigten.
Julius August Remer schließlich kann als einer der Endpunkte der "Lehnstuhlgelehrsamkeit" angesehen werden. Als Professor am Collegium Carolinum, Direktor des Braunschweiger Intelligenzwesens, in dessen Amtsbereich der Waisenhausverlag gehörte, und als Professor der Universität Helmstedt hat er das Herzogtum wohl nur einmal für eine Reise ins Schleswigsche verlassen und erscheint damit prädestiniert für den spannungsreichen Forschungsgegenstand. Zur Lage charakterisiert die Bedingungen der Materialsammlung. Die Bibliothek am Collegium Carolinum war schlecht ausgestattet, die in Helmstedt veraltet, bekam aber Ende des 18. Jahrhunderts neue Ankaufsmittel, doch werden die Schwierigkeiten einer auf Bücher gestützten sesshaften Gelehrsamkeit abseits der Zentren der Buchproduktion deutlich. Remer selbst hinterließ einen in einem Katalog erfassten auktionierten Nachlass von über 6000 Büchern, die in Grafiken hinsichtlich Thematik, Sprachen, Druckorten, Erscheinungsjahren und Entstehungskontext ausgewertet werden (271-275 und 280-285). An Hand der Kataloge der Universitätsbibliothek Helmstedt, der dortigen Lesegesellschaft und von Auktionen der Nachlässe von Professorenkollegen (Bruns, Henke), aber auch durch Auswertung der verwendeten Bücher und Zeitungen kann zur Lage die breite Literaturnutzung nachweisen. Remer prüfte die Nachrichten auf Plausibilität, verdichtete das Material schrittweise in kritischer Auseinandersetzung und synthetisierte es. Dabei verwertete er seine eigenen Schriften immer wieder neu für verschiedene Textsorten (Lehrbücher, Handbücher, Überblicksdarstellungen). Der Übersetzung der "History of the American War" des britischen Offiziers Charles Stedman fügte der tendenziell proamerikanische Remer eine Vorrede und Fußnoten bei, die dessen Bericht vorgeblich neutral korrigierten. Der soldatische Augenzeuge war nur der Informationsbeschaffer, Remer der reflektierende Erklärer; der Neutralitätsanspruch des Gelehrten fungierte als diskursive Strategie.
Zur Lage kann Remer plausibel in die sesshafte Gelehrsamkeit der Spätaufklärung einordnen und ihre internationalen Verflechtungen und Rezeptionen zeigen. Zwar wäre ein häufigeres beispielhaftes Nachvollziehen der Methodik an Hand von Quellenbelegen wünschenswert gewesen. Der Studie gelingt es aber ausgezeichnet, die zeitgenössische historische Arbeitsweise und Quellenbeschaffung in ihren regional- und globalgeschichtlichen Vernetzungen herauszuarbeiten.
Harald Bollbuck