Chen Jian / Martin Klimke / Masha Kirasirova et al (eds.): The Routledge Handbook of the Global Sixties. Between Protest and Nation-Building, London / New York: Routledge 2018, XXIII + 615 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-1-138-55732-1, EUR 200,00
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Dieser anregende Band ist ein in der Summe enorm hilfreicher, programmatischer Versuch, der ausufernden Forschung zu den langen 1960er Jahren (bzw. "Sixties" in der anglophonen Terminologie) in der damals sogenannten "Ersten Welt" quellennahe Beiträge aus dem "globalen Süden" sowie dem kommunistischen Herrschaftsbereich an die Seite zu stellen und so das Gesamtbild durch Entwicklungen in Afrika, Asien, Lateinamerika, dem Mittleren Osten sowie Ost- und Südeuropa zu dezentrieren, aber auch abzurunden. Der Band fordert dazu auf, Ernst zu machen mit der Parole, "1968" sei die "erste globale Rebellion" gewesen. Denn "global" meint bisher überwiegend Untersuchungen von Beziehungen innerhalb des Nordens, bestenfalls unter Einbeziehung von im Westen studierenden jungen Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika im Fall von Protestgeschichte, bzw. im Falle der "Nation Building"-Analysen zu Diplomatie, Entwicklungshilfe und Dekolonisierungskonflikten wie dem Krieg in Vietnam, wo der Fokus meist auf westlicher Politik liegt. Der Band leistet eine erhebliche Horizonterweiterung durch konkrete Fallstudien aus dem globalen Süden. Aber zugleich macht dieses Kollektivwerk einmal mehr deutlich, welche hohen praktischen Hürden "Globalgeschichte" nehmen muss: Mal fehlen ganz simpel Quellen, mal liegt es an den Autorinnen und Autoren, die überwiegend an westlichen Universitäten lehren, mal sind es die gestellten Fragen, denn zwei Drittel der Beiträge analysieren eher Nord-Süd- als Süd-Süd-Verhältnisse. Gut ist der durchgängige Fokus auf das Lokale.
Die beiden Mitherausgeber Martin Klimke und Mary Nolan betonen in der Einleitung die enorme Komplexität und Dichte der Ereignisse der langen 1960er Jahre, die eine globale Geschichte der "Sixties" zu einer großen Herausforderung machen. Doch angesichts des guten Forschungsstandes sei es an der Zeit, eine "truly global perspective" auf diese Jahre zu entwickeln (2). Beide erkennen an, dass es nicht darum gehen könne, die transatlantischen oder innereuropäischen Beziehungen aus den Geschichtsbüchern zu tilgen - oder auch die Rolle mächtiger Staaten wie USA, UdSSR und China, aber auch der Ex-Imperialmächte Frankreich und Großbritannien, zu unterschätzen. Vielmehr gelte es, das Besondere lokaler Entwicklungen im Kontext globaler Prozesse quellenbasiert herauszuarbeiten. Da der Band aus zwei Tagungen des in sich globalisierten Netzwerks von Mitgliedern der außer in New York auch in Abu Dhabi und Shanghai mit eigenem Campus präsenten New York University hervorgegangen ist, trägt die kollektive Leistung der Autorinnen und Autoren zu dieser Ausweitung zweifellos bei. Wie stets bei konferenzbasierten Bänden ist es unvermeidlich, dass die Einzelbeiträge die einleitend skizzierte Programmatik mehr oder weniger präzise einzulösen vermögen. Daher regt die Lektüre des Bandes zu weiteren Forschungen an, obwohl die Empirie immer wieder Mühe hat, mit der Programmatik Schritt zu halten. Insofern ist der Titel "Handbuch" etwas irreführend, denn der Band hat durchaus nicht den Anspruch, die "globalen Sechziger" auf Basis gesicherten Wissens zu kartieren, sondern versteht sich eher als Impulsgeber für die Forschung.
Mit Blick auf die geforderte Globalisierung der Historiographie der 1960er Jahre hat sich das Herausgeber-Team bewusst dagegen entschieden, Beiträge zu Westeuropa und den USA aufzunehmen - eine sinnvolle und legitime Eingrenzung. Aber müsste sich dieser Blick auf die "Welt ohne den Westen" nicht auch im Titel des Bandes widerspiegeln? Als "global" firmiert hier, so wird man kritisch einwerfen müssen, der "Rest", d. h. als alles außer dem historischen Kern der EU (nach der ersten Erweiterung) und den USA. Sollte im Titel daher nicht "global" durch "globaler Süden" ersetzt werden? Ein zweiter genereller Hinweis betrifft den Untertitel, der eine Gleichgewichtigkeit von "Nation Building" und "Protest" suggeriert, die aber so nicht eingelöst werden kann: "Nation Building" taucht am ehesten noch in den Beiträgen zum Mittleren Osten und Afrika auf, etwa in dem empfehlenswerten Aufsatz von Priya Lal zum sozialistischen Ujamaa-Experiment des tansanischen Staatsgründers Julius Nyerere oder dem aufschlussreichen Aufsatz von Andrew Ivaska zu der an Ironien reichen Geschichte der gescheiterten Versuche des kubanischen Berufsrevolutionärs Che Guevara, den antiimperialistischen Widerstand in Afrika zu organisieren. Der Paternalismus eines südamerikanischen Weißen ging tansanischen und kongolesischen Freiheitskämpfern schlicht gegen den Strich, und sie forderten, Kuba solle schwarze, und nicht weiße Truppen und Ärzte entsenden (35). Gute Hinweise zum Verhältnis von Staatswerdung und Protest finden sich auch im Beitrag von Bahru Zewde zu Äthiopien. Was der Band als Frage im Untertitel anlegt, wäre eine systematische Untersuchung wert, denn protestiert wurde nicht nur gegen "westlichen Imperialismus", sondern auch gegen postkoloniale Führer wie Léopold Senghor (hierzu der Aufsatz von Omar Gueye zu Dakar). Im Falle Rhodesiens führte die ungleiche Behandlung von Menschen nach Rasse durch die weiße Minderheitsregierung zur Spaltung der Protestbewegung, denn schwarze Studierende hielten sich von den Aktionen ihrer weißen Kommilitonen fern (so Dan Hodgkinson zur Ungleichzeitigkeit des Transnationalen). Der Beitrag zu Rhodesien verweist auch auf den fehlenden Aufsatz zu Südafrika.
Trotz einiger offenkundiger Leerstellen: Die geographische Spannweite des Bandes ist beeindruckend, von Rhodesien, Tansania, Äthiopien, den beiden kongolesischen Republiken und den portugiesischen Kolonien, über Oman, die Emirate, Iran, Palästina, Israel und Ägypten, über Senegal, Mali und Marokko reicht sie bis nach Brasilien, El Salvador und Mexiko. Auch die UdSSR und China nehmen einen zentralen Platz ein, wobei es jedoch hier um normativen und propagandistischen Antikolonialismus geht, wie im Falle der gebauten anti-kolonialen Utopie von Tashkent (auch visuell gut aufbereitet von Masha Kirasirova). Der "globale" Süden bezieht mit der "mediterrane[n] Semiperipherie" (so Kenan Behzat Sharpe in einem Beitrag zur Gegenkultur in der Türkei und Griechenland, 176) auch ehemalige europäische Imperialmächte mit ein, da Länder wie Portugal, Spanien und die Türkei in den 1960er Jahren soziostrukturell und politisch Lateinamerika mehr ähnelten als Westeuropa. Nicht trennscharf ist die Ausgrenzung des Westens mit Blick auf "innere Peripherien" erfolgt, denn mehrere Beiträge behandeln Formen der Interaktion zwischen Amerikanern und Westeuropäern mit Menschen aus dem globalen Süden. Dies gilt etwa für den Beitrag von Judy Tzu-Chun Wu über "Asian/American Women" oder den von Quinn Slobodian über "Western Maoism". Auch Jon Piccinis Beitrag zum Anti-Vietnamkriegs-Protest in Australien beschreitet ein klassisches "westliches" Protest-Territorium. Ähnliches lässt sich über den die globale Bühne des Linksfeminismus souverän beschreitenden Beitrag von Francisca de Haan sagen sowie den von Jasamin Rostam-Kolayi zum Peace Corps im Iran. Indes: Hier, wie auch im vergleichend angelegten Beitrag von Françoise Blum zum "Mai 68" in Frankreich und Afrika, sprechen die Protestierenden des "globalen Südens" für sich selbst, aber eben in einem Austausch mit ihren europäischen Peers. Das unterstreicht, dass sich eine globale Geschichte der "Sixties" schwerlich ohne "den Westen" schreiben lässt.
Was genau war das Verbindende der "globalen Sechziger"? Der prominente Historiker des Kalten Kriegs Odd Arne Westad spricht in seinem Vorwort lakonisch vom Streben nach "Autonomie" (xxii). Das springt etwas kurz. Eine etwas kompliziertere Antwort gibt der renommierte Sinologe und Literaturwissenschaftler Christopher Connery. Er stellte in einem "The Dialectics of Liberation" betitelten Aufsatz Begriffe wie Befreiung und Emanzipation in den Vordergrund und zieht in seiner Analyse von Kongressen wie dem der Trikontinentalen in Havanna 1966 Vergleiche zur gegenwärtigen Lage. Die Philosophin Hannah Arendt zitierend, arbeitet er den Unterschied zwischen negativer und revolutionärer "Befreiung von etwas" und "Freiheit zu etwas" heraus (586). Ersteres, das Abwerfen von Fesseln, der Bruch mit der "alten Ordnung" war für die Ereignisgeschichte der 1960er Jahre weltweit charakteristisch. Das vordergründig vielfache Scheitern der Befreiung selbst habe jedoch die Grundlage für neue demokratische und freiheitliche Praktiken gelegt, die mal mehr, mal weniger weiterwirkten. Alle Bewegungen der 1960er Jahre, so Klimke und Nolan, habe ihre Opposition gegen den Status quo verbunden. Sie hätten sich hierfür eines global verfügbaren Pools an intellektuellen Referenzpunkten wie auch der Diffusion konkreter Protesttaktiken bedient (6). Wie global zirkulierende Ideen und Geschichten dann lokal wirkten, dazu geben viele der hier vorgelegten Beiträge mehr als nur erste Antworten. Daher spricht dieses Handbook of the Global Sixties zwar nicht das letzte Wort. Aber es steht zu hoffen, dass es weitere Debatten und weitere Forschung inspirieren wird.
Philipp Gassert