Markus Nesselrodt: Dem Holocaust entkommen. Polnische Juden in der Sowjetunion, 1939-1946 (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge; Bd. 44), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, X + 389 S., ISBN 978-3-11-059156-9, EUR 89,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Thomas Thiemeyer: Geschichte im Museum. Theorie - Praxis - Berufsfelder, Stuttgart: UTB 2018
Andrea Rudorff: Frauen in den Außenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen, Berlin: Metropol 2014
Hannah Maischein: Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Regina Fritz (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Band 15: Ungarn 1944-1945, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Regina Fritz / Éva Kovács / Béla Rásky (Hgg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden, Wien: new academic press 2016
Gabriele Anderl: "9096 Leben". Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer, Berlin: Rotbuch 2012
Chajka Klinger: I Am Writing These Words to You. The Original Diaries, Będzin 1943. Ed. by Avihu Ronen, Jerusalem: Yad Vashem 2017
Katarzyna Person: Warsaw Ghetto police: the Jewish Order Service during the Nazi occupation. Translated by Zygmunt Nowak-Soliński, Ithaca / London: Cornell University Press 2021
Ungefähr 300.000 polnische Juden gelangten nach Beginn des Zweiten Weltkriegs entweder durch Flucht oder Zwangsverschleppung auf sowjetisches Territorium; etwa 230.000 von ihnen überlebten die Kriegsjahre und damit den Holocaust. Markus Nesselrodt erzählt in seiner lesenswerten Untersuchung die Geschichte dieser Gruppe, über deren Schicksal lange wenig bekannt war. Er schreibt eine Erfahrungsgeschichte dieser polnischen Jüdinnen und Juden und fragt, was sie erlebt hatten und wie sie dies vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit darstellten.
In den Wochen nach Kriegsbeginn verließen Hunderttausende ihre Heimat und flohen auf sowjetisch kontrolliertes Territorium. Manche polnische Juden entschieden sich nicht zur Flucht, sondern wurden aus grenznahen Orten von den einmarschierenden Deutschen in Richtung Osten vertrieben. Mit dem sowjetischen Einmarsch wiederum kamen die in diesen vormals polnischen Gebieten lebenden Juden unter sowjetische Herrschaft. Die Reaktionen auf diesen Einmarsch fielen sehr unterschiedlich aus. Weit verbreitet waren Skepsis und Unsicherheit. Nur eine kleine Minderheit der polnischen Juden zeigte sich offen begeistert, doch hatte dieser "Enthusiasmus einiger weniger Tausender Personen die größte Wirkung auf die polnisch-jüdischen Beziehungen der nachfolgenden Jahre" (58).
Es gab zwar tatsächlich Aufstiegschancen für polnische Juden, diese waren jedoch eng geknüpft an die Bedürfnisse und Ziele der Machthaber und damit nie dauerhaft gesichert. Während die einheimischen Juden in den ostpolnischen Gebieten Ende 1939 automatisch die sowjetische Staatsbürgerschaft bekamen, blieben die Flüchtlinge aus West- und Zentralpolen mehrheitlich polnische Staatsbürger und hatten dadurch erhebliche Nachteile, etwa auf dem Arbeitsmarkt, und waren auf die Hilfe jüdischer Organisationen wie des American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) angewiesen. Die Situation vieler Flüchtlinge verschlimmerte sich zusehends. Einen Ausweg bot für manche die von den Behörden angebotene freiwillige Umsiedlung als Arbeitskräfte ins Innere der Sowjetunion. Doch für Tausende Juden schien der einzige Ausweg, in ihre Heimatorte zurückzukehren, zumal sie ohne verlässliche Information über die dortige Lage unter deutscher Herrschaft waren. Hier wird deutlich, dass "der Prozess der Entscheidungsfindung äußerst dynamisch und zuweilen widersprüchlich verlief. Einmal getroffene Entscheidungen konnten angesichts der veränderten politischen Situation revidiert oder auch bekräftigt werden." (106)
Vielen nahmen die sowjetischen Behörden die Entscheidung ab: Da aus ihrer Sicht die Rekrutierung arbeitsloser Flüchtlinge ein Misserfolg war, begannen sie mit der Zwangsumsiedlung polnischer Juden. In einem Täuschungsmanöver stellten die Behörden die Flüchtlinge zuvor vor die Wahl, einen sowjetischen Pass anzunehmen oder in ihre Heimat zurückzukehren. Doch damit sollte nur ihre Loyalität überprüft werden. In der ersten Jahreshälfte 1940 deportierte der NKWD etwa 70.000 polnische Juden aus den annektierten Gebieten in das Innere der Sowjetunion, die allermeisten von ihnen in nur zwei Nächten Ende Juni. Alleinstehende Männer wurden in Arbeitslager verschleppt, Eheleute, Frauen und Familien in sogenannte Sondersiedlungen geschickt, in denen eine geringe Entlohnung für Arbeit gezahlt wurde.
Nach bis zu fünf Wochen dauernden Fahrten in einfachen Güterzügen unter katastrophalen Bedingungen, die etwa jeder Zehnte nicht überlebte, kamen die verunsicherten Menschen in den Siedlungen an. Bei der Ankunft folgte der nächste Schock. Mitunter mussten die Deportierten wochenlang unter freiem Himmel schlafen, da Quartiere erst noch gebaut werden mussten. Nesselrodt schildert in der Folge das beschwerliche Leben in den Sondersiedlungen und beschreibt, wie die Verschleppten versuchten, dort zurechtzukommen. Die Mehrheit von ihnen wurde aus den Lagern und Sondersiedlungen entlassen und versuchte zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1942, in wärmere Regionen im zentralasiatischen Süden der UdSSR zu gelangen.
Dorthin kamen wiederum nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion auch über eine Million sowjetische Juden, darunter Zehntausende aus Polen, in offiziellen Evakuierungszügen aus frontnahen Regionen. In den zentralasiatischen Sowjetrepubliken konzentrierte sich zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1946 "das polnisch-jüdische Leben im sowjetischen Exil. Hier begannen sich die verschiedenen Erfahrungen zu synchronisieren." (157) Zum wichtigsten Zufluchtsort wurde dabei die usbekische Hauptstadt Taschkent, in die Zehntausende Evakuierte und Flüchtlinge kamen. Tausende Flüchtlinge jedoch irrten umher, viele fanden keine Arbeit; die Situation wurde immer angespannter. Menschen verhungerten massenhaft oder fielen Epidemien zum Opfer. Hier schildert Nesselrodt auch das oft komplizierte Verhältnis zwischen jüdischen und nicht-jüdischen polnischen Exilanten sowie zur lokalen Bevölkerung.
Anfang 1943, nach dem Sieg in der Schlacht um Stalingrad, forcierte die sowjetische Regierung die Vorbereitungen für ein Nachkriegspolen unter sowjetischer Vorherrschaft. Nun ändert sich die politische Gesamtkonstellation für Polen im sowjetischen Exil und damit auch die Stellung der polnischen Juden. Nesselrodt schildert im folgenden Teil seiner Studie, wie der nun entstehende Verband Polnischer Patrioten in mehrfacher Hinsicht auch auf das Schicksal der polnischen Juden Einfluss nahm, nämlich durch den Aufbau einer polnischen Armee in der Sowjetunion (Berling-Armee) unter Einschluss von Juden, die Wiederaufnahme der Sozialfürsorge und dann die organisierte Repatriierung. Das am 20. Juli 1944 in Moskau gegründete PKWN (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego / Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung) zog zwei Tage nach seiner Gründung ins befreite Lublin um; am 31. Dezember 1944 erkannte es die Sowjetunion formal als provisorische Regierung Polens an.
Einige wenige polnisch-jüdische Exilanten konnten schon direkt nach Kriegsende in ihre Heimat zurückkehren, da sie familiäre Beziehungen in die nun sowjetischen Westgebiete hatten; die Mehrheit der Flüchtlinge konnte Anfang 1946 die Heimreise antreten. Die Rückkehr gestaltete sich als äußerst schwierig, und so hat Nesselrodt dieses Kapitel treffend "Rückkehr ohne Heimat" überschrieben. Die Repatriierten kehrten "in ein von Krieg und Besatzung gezeichnetes Land zurück, in dem der Status jüdisch hochgradig problematisch geworden war." (274) Beide Gruppen deuteten den Krieg unterschiedlich und hatten sehr verschiedene Erfahrungen gemacht. Viele Exilanten wussten wenig darüber, was sich im besetzten Polen abgespielt hatte und kamen zurück in der Hoffnung, dass ihre Familien überlebt hatten. Was sie hingegen nach ihrer Rückkehr vorfanden, war ein "Friedhof" (282), ihre Heimat war zerstört.
Nicht nur mussten die Rückkehrer sich auf die Suche nach einem neuen Zuhause machen, auch waren sie immer wieder mit antijüdischer Gewalt konfrontiert, die im Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946, wo 42 Juden von ihren polnischen Nachbarn ermordet wurden, einen traurigen Höhenpunkt fand. Tausende Juden sahen für sich keine Zukunft in einem Nachkriegspolen, in dem auch nach dem Ende der deutschen Besatzung Juden ermordet wurden, und verließen das Land. Nach dem erneuten Verlust der Heimat flohen viele polnische Juden in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands. In den Displaced-Persons-Lagern schwiegen die Rückkehrer aus der Sowjetunion meist. Sie hatten nicht den Eindruck, dass ihre Geschichte erzählenswert sei und wollten sich zudem der Zukunft zuwenden. Die Akteure des Erinnerns und Gedenkens in den DP-Lagern waren zudem nicht wirklich an diesen Exil-Erfahrungen interessiert, sie sammelten die Berichte derjenigen, die vor Ort unter deutscher Besatzung überlebt hatten. So waren die Rückkehrer aus der Sowjetunion in dieser Zeit kein Teil einer jüdischen Erfahrungsgeschichte des Holocaust.
Markus Nesselrodt holt in seiner wichtigen und überaus lesenswerten Untersuchung diese polnischen Juden, die die Kriegsjahre im sowjetischen Exil überlebt, doch zugleich ihre Heimat und in vielen Fällen große Teile ihrer Familien und Freunde im Holocaust verloren haben, aus einem zumindest partiellen Vergessen. Er gibt den Flüchtlingen und Deportierten eine Stimme, übrigens auch, wenn sie ihre Erlebnisse beispielweise in Form von Gedichten verarbeitet haben, und fügt das sowjetische Exil als wichtigen Ort der jüdischen Erfahrungsgeschichte im 20. Jahrhundert hinzu. Es ist ein großes Verdienst dieser Studie, dass die polnischen Juden, obgleich durch äußere Umstände zur Flucht gezwungen oder zwangsweise deportiert, hier immer als Akteure auftreten, die ihre Lage bewerten, entsprechend reagieren, und wieder und wieder versuchen, ihr Leben aufs Neue zu organisieren.
Andrea Löw