Veronika Unger: Päpstliche Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert. Archiv, Register, Kanzlei (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii; Bd. 45), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 352 S., ISBN 978-3-412-50033-7, EUR 50,00
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Um es vorweg zu nehmen: Die Darstellung von Veronika Unger über päpstliche Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert ist überlieferungsnah, erkenntnisreich und flüssig geschrieben - und damit bereits eine Freude für jeden, der grundwissenschaftliche Studien zu schätzen weiß und/oder sich mit Kanonistik beschäftigt. Die Erlangener Dissertation entstand wohl nicht zuletzt aus der Mitarbeit der Verfasserin an den Papstregesten der Regesta Imperii heraus, und es ist fraglich, ob sie auf anderem Wege hätte entstehen können. Mehr noch, die von Unger vorgelegte Studie hat in Teilen nahezu den Charakter eines Kommentars zu den bereits erschienen und noch erscheinenden Papstregesten des 9. Jahrhunderts.
Das im Rahmen ihrer Tätigkeit erworbene Detailwissen nutzt Unger in ihrem Buch für eine systematische Darstellung päpstlicher Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert. Mit "Schriftlichkeit" meint die Verfasserin ausdrücklich "alle Arten von Schriften, die irgendwie mit den Päpsten in Verbindung stehen" (1). Das klingt möglicherweise banal, ist aber ein durchaus anspruchsvolles Vorhaben, da durch dieses Vorgehen eine Überlieferung gedanklich zusammengefasst wird, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen in der Regel getrennt behandelt wird. Kern der Arbeit ist die systematische Bestandsaufnahme dieser umfangreichen Überlieferung (7-140). Unger ordnet das Material nach den Überlieferungsformen. Das ist der Zielsetzung geschuldet, die Überlieferung orientiert an ihrer Materialität darzustellen, hat aber den Nachteil, dass Einzelbefunde umständlich zusammengesetzt werden müssen, um z.B. eine zeitliche Entwicklung nachzuvollziehen. Im zweiten Teil der Untersuchung wendet sich Unger formalen Aspekten der Gestaltung von (soweit vorhanden) Protokoll und Eschatokoll sowie der Frage nach der Benutzung des Liber Diurnus zu (141-229). In einem dritten, etwas knapper ausfallendem Schritt versucht die Verfasserin, ein päpstliches "Archiv" zu rekonstruieren (231-288). Unger arbeitet dabei durchgehend systematisch und transparent. Besonders positiv hervorzuheben sind ihre konzisen Zwischenergebnisse (136-140, 226-229, 286-288) und das pointierte Fazit. Erstaunlich ist, dass auch die Einleitung mit kaum mehr als 4 Seiten Text sehr knapp ausfällt und nicht nur weniger gut in der Thematik orientierte Leser einigermaßen ratlos zurücklassen dürfte.
Unger analysiert Privilegien, Briefe und weiteres Schriftgut detailliert und methodisch sicher, und kommt dabei im Großen wie im Kleinen zu vielen relevanten Ergebnissen. Zentral ist sicherlich ihre Auseinandersetzung mit dem Register Johannes' VIII. und dessen Einordnung als einer vor allem zur Außendarstellung dieses Papstes angelegten Sammlung, die sich am Vorbild des Registers Gregors des Großen ausrichtete (z.B. 46, 53). Unger lehnt die in der Forschung verbreitete Vorstellung eines seit der Spätantike mehr oder weniger durchgängig in Rom geführten (aber verlorenen) Registers ab, für das sie keinerlei Spuren findet. In Rom wurde demnach zwar in einem nicht näher definierbaren Archiv gesammelt, aber scheinbar nur wenig systematisch, sondern eher situationsbezogen, z.B. im Zusammenhang mit Konzilien oder bestimmten Themen. Von einer "Kanzlei" möchte sie nur in dem Maße sprechen, dass sie von einem mehr oder weniger definierten (aber möglicherweise nicht zu rekonstruierendem) Personenkreis ausgeht, "der für die Abfassung von unterschiedlichen Schriften verantwortlich war" (291f.). Das Dilemma, in dem die frühmittelalterliche, papstgeschichtliche Forschung durch die Nutzung der (auch, aber nicht nur quellenimmanenten) Begriffe Kanzlei, Archiv und Register steckt, wird hier einmal mehr deutlich und kann auch von Unger nicht gelöst werden. Ihre Sensibilität für die Begrifflichkeiten ist aber durchaus vorbildlich.
Dies ist unverkennbar ein Buch von einer Spezialistin für Spezialisten. Man muss es so deutlich sagen, es ist für in der Materie noch wenig bewanderte Historiker (und solche die es werden wollen) eher nicht geeignet. Zwar gibt es ein Orts- und Personennamenregister, aber dieses ist dann auch das einzige Hilfsmittel, zu dem sich der Verlag hinreißen ließ, um den Inhalt zu erschließen. Es fehlen ergänzende Darstellungsformen im Anhang, die das hier ausgewertete Quellenmaterial und die Ergebnisse übersichtlich greifbar machen würden. So soll z.B. die "ungleiche Verteilung der Briefüberlieferung besser nachvollziehbar" (15) gemacht werden, eine nach Pontifikaten geordnete Übersicht fehlt jedoch. Auch wird die Bedeutung der unterschiedlichen Überlieferungsorte zwar immer wieder im Text diskutiert, eine Karte oder Tabelle, die solche Erkenntnisse auf einen Blick zugänglich machen würde, sucht man jedoch vergeblich. Den praktischen Nutzen mindert z.B. auch die Tatsache, dass das Handschriftenverzeichnis keine Seitenzahlen enthält. Unbedarfteren Lesern hilft es vermutlich eine Papstliste, oder besser noch ein paar Bände der Regesten griffbereit zu haben, um den Überblick nicht zu verlieren. Solide Kenntnisse der Papst- und Kirchengeschichte sowie der Kanonistik in Früh- und Hochmittelalter sind ebenso eine zentrale Voraussetzung dafür, mit Ungers Gedankengängen Schritt halten zu können. Mag das potentielle Rezipienten davon abschrecken, sich in die gewinnbringende Lektüre zu vertiefen, es war möglicherweise nicht zu verhindern, wenn man den Umfang der Studie auf ein lesbares Maß beschränken möchte - was Unger erfolgreich gelungen ist.
Vielleicht aus demselben Grund wurden die wichtigen Ergebnisse der Studie fast gar nicht von der Verfasserin selbst in einen größeren historischen Kontext eingeordnet. Es ist aber wichtig, dass grundwissenschaftlich arbeitende Historiker selbstbewusst die Bedeutung ihrer Arbeit für die "breitere" Geschichte herausstreichen, und dazu gehört nach Ansicht dieser Rezensentin die Kontextualisierung ebenso wie der Mut auch größere Linien zu zeichnen, die über den konkreten Untersuchungsgegenstand hinausweisen. Veronika Unger wäre mit ihrem reichhaltigen Fachwissen dafür prädestiniert gewesen. So sind die häufig von ihr beobachteten Veränderungen in den Details der Überlieferung, die sie mit einem zunehmenden Selbstbewusstsein der Päpste erklärt, natürlich höchst relevant und anschlussfähig für die Geschichte des Papsttums im 9. Jahrhundert, die hier aber kaum eine Rolle spielt. Auch wie sich die Ergebnisse zur päpstlichen Kanzleiforschung und der Geschichte des Papsttums vor dem Zeitalter des Investiturstreits verhalten, wird eher angedeutet als ausgeführt. Ungers Ergebnisse zur Überlieferung weisen aber auch über die Papstgeschichte im engeren Sinne hinaus und sind anschlussfähig an die Geschichte des Frankenreichs im 9. Jahrhunderts. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass ihre mit detaillierter Sachkenntnis vorgetragenen Überlegungen in Zukunft weiträumig Berücksichtigung finden werden.
Clara Harder