Walburga Hülk: Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand, 3. Auflage, Hamburg: Hoffmann und Campe 2020, 416 S., 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-455-00637-7, EUR 26,00
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"Im Paris des Jahres 1853 stießen Welten aufeinander, die nur scheinbar unterschiedlichen Gesetzen gehorchten: Monarchischer Retrochic und Fortschrittswahn, Armut und immenser Reichtum, Bohème und Bürgertum, Hungerkünstler und Stars des Kulturbetriebs. Kaum jemand überblickte die Lage in einer Stadt, die sich anschickte, die 'Hauptstadt des 19. Jahrhunderts' und die Metropole der Zukunft zu werden. Für die Bewohner war es nahezu unmöglich, die Haupt- und Neben-, Vorder- und Hinterbühnen des politischen und kulturellen Geschehens zu sortieren, die zwar gleichzeitig aufgebaut wurden, aber nicht alle einzusehen waren." (46) Wie man jene Bühnen des Politik- und Kulturbetriebs in Paris zur Zeit des Second Empires wissenschaftlich genauer bestimmen und in ihren besonderen Merkmalen darlegen kann, das zeigt sehr überzeugend die Romanistin Walburga Hülk-Althoff in ihrem Buch "Der Rausch der Jahre".
Gleich mehrere Vorhaben setzt die Verfasserin in der kompositorisch dichten Studie um: Zuerst geht es ihr darum, mit Hilfe eines interdisziplinären Forschungsansatzes, einer multiperspektivischen Betrachtungsweise und eines stilsicheren wie ausdrucksstarken Sprachgebrauchs dem gewaltigen Umbruch in der französischen Hauptstadt zwischen 1850 und 1870 auf die Spur zu kommen und die oft gleichzeitig verlaufenden Innovationsschübe und Modernisierungsprozesse auf so unterschiedlichen Feldern wie der Stadtplanung und Infrastruktur, der Industrieproduktion und des Verkehrswesens, der Wirtschafts- und Arbeitswelt, des Luxuskonsums und Savoir-vivre, aber auch des Literatur- und Kunstmarktes anschaulich wiederzugeben und schrittweise nachzuvollziehen. Sodann zielt Hülk-Althoff in der Darstellung darauf ab, das Zweite Kaiserreich unter Napoleon III. in einem grandiosen Epochen-Panorama wiederauferstehen zu lassen. Zu diesem Zweck sucht sie, die gesamte Ära der bonapartistischen Herrschaft vom Staatsstreich 1851 bis zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, die sowohl mit Zensur, Sicherheitsgesetzgebung und "Wiederaufführung höfischer Rituale" als auch mit Paris als "Epizentrum des Aufbruchs" und als "öffentlicher Raum des kritischen Denkens und des freizügigen Lebensstils" verbunden wird, in ihrer "Atmosphäre und Doppelbödigkeit" vor Augen zu führen. Dies tut sie auf mehreren Ebenen, indem sie von der politischen und kulturellen Entwicklung des Kaiserreichs und dem Lebensgefühl in Paris erzählt, die Durchschlagskraft der Moderne in ihren einzelnen Facetten durch die Brille französischer Intellektueller, der Dichter, Schriftsteller und Journalisten Edmond und Jules de Goncourt, Gustave Flaubert, Charles Baudelaire, Victor Hugo, George Sand, Émile Zola sowie anderer Kulturschaffender und Staatsmänner betrachtet und dabei wortgewaltig und bilderreich argumentiert, um den "Rausch des Fortschritts" begreifbar zu machen (11-12, 353).
Um die anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen, ist die Studie chronologisch aufgebaut, verknüpft ausgewählte Jahrestage mit dem historischen Geschehen und der literarischen Verarbeitung durch die genannten Autoren und stellt zudem aktuelle geschichtspolitische Bezüge her. Das heißt, nach einem kurzen einleitenden Vorwort ist jedes der folgenden zehn Kapitel einem bestimmten Jahr zwischen 1851 und 1870 zugeordnet und widmet sich darin zentralen Ereignissen der französischen Politik-, Kultur- und Pariser Stadtgeschichte, die sich im Laufe dieses Jahres zugetragen haben, durch die zeitgenössischen Stimmen geschildert werden und die bis heute eine wichtige Rolle in der nationalen Erinnerungskultur spielen. So wird zum Beispiel im Kapitel "1851" der Staatsstreich von Louis Napoleon Bonaparte am 2. Dezember 1851 detailliert beschrieben, werden die Hintergründe des Tages, warum er "ein Tag der Bonapartes, des einen und anderen Napoleon" war, aufgezeigt (18) und obendrein die Bedeutung, die Literaten jenem beimaßen, erläutert: Während der Staatsstreich im Großprojekt der Brüder Goncourt, dem "Journal. Mémoires de la vie littéraire", als eine "Traumvision vom Jüngsten Gericht" erscheint (23), zieht Gustave Flaubert in seinem 18 Jahre später publizierten Roman "L'Éducation sentimentale" eine "ätzende Bilanz" des Kaiserreichs und spricht von einer "Zwangsversteigerung" (27, 30). Hingegen bezeichnet George Sand als "leidenschaftliche Republikanerin" und "einzige Dame inmitten aller Freundeszirkel und Herrenrunden" in ihrem Werk "Souvenirs et idées" den Putsch als "Apokalypse" (31). Und Victor Hugo, zu dieser Zeit längst "Jahrhundertdichter" und "das republikanische Gewissen der Nation", verfasst das Pamphlet "Napoléon le Petit", das 1852 in Brüssel erscheint und in dem er mit dem neuen Herrscher der Franzosen abrechnet und den Staatsstreich "ohne Umschweife ein 'Verbrechen'" und "den Urheber einen 'Banditen'" nennt (37, 39).
Zusätzliche Schlaglichter zur Kennzeichnung der Epoche werden auf die "kühne urbanistische Vision" und den Umbau von Paris nach den Plänen von Georges-Eugène Haussmann geworfen, die auf eine Neugestaltung der Hauptstadt hinausliefen (60). Ferner wird auf die Erfindungen in der Eisenproduktion, Velotechnik, Telegraphie und Fotografie, die Kreationen der Inneneinrichtung, Haute Couture, Ess- und Trinkkultur sowie auf die Schöpfungen der Kunstszene verwiesen, die bei den Pariser Weltausstellungen 1855/67 präsentiert wurden. In dem Zusammenhang werden auch die neuen Meisterwerke in Malerei, Musik und Literatur vorgestellt: Dies gilt für den "endgültigen Durchbruch" von Eugène Delacroix auf der Kunstausstellung 1855, bei der er große Erfolge mit seinen Bildern, darunter "La Liberté guidant le peuple", feierte (99) genauso wie für die Aufsehen erregende Darbietung von Edouard Manet beim Kunstsalon 1863, bei der sein Gemälde "Le Déjeuner sur l'herbe" einen Skandal auslöste, seine Karriere jedoch beflügelte und ihn zu einem "Meister der Moderne" machte (265). Dazu zählt die triumphale Aufführung der Operette "Orphée aux enfers" von Jacques Offenbach 1858. Und dazu gehören die 1857 erschienenen Werke von Flaubert und Baudelaire, der Gesellschaftsroman "Madame Bovary" und der Gedichtzyklus "Les Fleurs du Mal", die für eine "radikal neue Literatur" standen und spektakuläre Gerichtsprozesse auslösten (139).
Nicht zuletzt behandelt die Studie die großen Linien der innen- und außenpolitischen Entwicklung Frankreichs, wobei insbesondere die Ziele, Konzepte und Strategien des Herrschers und seiner Regierung auf den Feldern der Außenpolitik ausführlich untersucht werden. Aufgrund seines langjährigen Exils sprach Napoleon III. nicht nur vier Sprachen fließend und kannte Europa besser als mancher andere Monarch, er sah auch die Rolle Frankreichs im europäischen Mächtekonzert wesentlich differenzierter. Obgleich er danach strebte, die nach dem Wiener Kongress geschmälerte politische Bedeutung Frankreichs zurückzugewinnen, die Stellung des Landes in Europas Herrschaftsgefüge auszubauen und global "die geostrategische Ordnung im Gleichgewicht [zu] halten", sah er sich nicht in der "Rolle des aggressiven Feldherrn und Kriegstreibers". Eher verstand er sich zu Beginn seiner Herrschaft als "Mann der Diplomatie und der Netzwerke", wollte den Frieden für das Kaiserreich wahren, sprach 1854 vom Ende des Zeitalters der Eroberungen und stellte 1864 in einer Rede sogar die Idee der Einrichtung eines europäischen Gerichtshofs vor. Wie er entgegen dieser Vorstellungen außenpolitisch dann doch oft wie ein "Hasardeur" agierte; wie die ursprünglich aufklärerisch gedachte, "zivilisatorische Mission" Frankreichs während seines Regimes umschlug und auf einmal "rohe Gewalt rechtfertigen" sollte (12, 76, 197); wie er das Land in etliche internationale Konflikte verwickelte, die Grande Nation zwar zu manchen militärischen und diplomatischen Siegen führte und ihren Rang als europäische Führungsmacht und Global Player wiederherstellte; wie im gleichen Zuge aber die Verstimmungen mit Preußen stetig zunahmen und am Ende in die Katastrophe des Deutsch-Französischen Krieges mündeten, das alles kann die Verfasserin eindringlich darlegen. Dabei reicht die Untersuchung vom Krimkrieg und italienischen Einigungsstreben, über den Aufbruch in den Nahen und Fernen Osten und die Anfänge der Kolonialpolitik in Nordafrika, bis zu dem Krieg gegen die deutschen Staaten, der Schlacht von Sedan, der Kapitulation Frankreichs, dem Kommune-Aufstand und der Ausrufung der Republik.
Die gesamte Studie ist dem Ziel gewidmet, die Ambivalenz der Moderne in Frankreich vor 150 Jahren angemessen zu würdigen. Eine solche Ausgewogenheit in Darstellung, Deutung und Einordnung zu erreichen, diese Aufgabe bewältigt Hülk-Althoff auf geradezu herausragende Weise: Denn, selbst wenn fortschrittsskeptischen und kapitalismuskritischen Positionen, die wohl dem heutigen Zeitgeist geschuldet sind, ein bisschen zu viel Raum in der Betrachtung gewährt wird, so schlagen diese doch an keiner Stelle in biedermeierlich-romantische Verklärung der vorindustriellen Zeit um. Im Gegenteil, vielmehr gelingt es der Verfasserin, neben den nicht zu leugnenden, lange nachwirkenden Krisen, Spannungen und Spaltungen des Umbruchs, also den "Komplikationen der Freiheit" (353), stets auch den Aufbruch, die tatsächlich gegebenen politischen, sozioökonomischen, kulturellen und technischen Verbesserungen, Erleichterungen, Chancen und Möglichkeiten der Moderne im Auge zu behalten, freizulegen und klar zu benennen. Deshalb kann man dieses neue Standardwerk, das von einem substantiellen Anmerkungsteil, einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie von sehenswerten Abbildungen und einem nützlichen Personenregister abgerundet wird, dem historisch arbeitenden Fachwissenschaftler wie dem interessierten Frankreichkenner guten Gewissens empfehlen: Dem Buch ist eine umfassende Rezeption und eine breite Leserschaft über alle Grenzen hinweg auf beiden Seiten des Rheins zu wünschen.
Birgit Bublies-Godau