Yair Mintzker: Die vielen Tode des Jud Süß. Justizmord an einem Hofjuden. Aus dem amerikanischen Englisch von Felix Kurz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 261 S., 11 Abb., ISBN 978-3-525-37098-8, EUR 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michael Stolleis: "recht erzählen". Regionale Studien 1650-1850, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2021
Katharina Jahntz: Privilegierte Handelscompagnien in Brandenburg und Preußen. Ein Beitrag zur Geschichte des Gesellschaftsrechts, Berlin: Duncker & Humblot 2006
Sébastien Schick / Hannes Ziegler (Hgg.): Publicum und Secretum. Die Diarien Gerlach Adolph von Münchhausens vom Frankfurter Wahltag 1741/1742, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023
Das Inquisitionsverfahren gegen den württembergischen Hofjuden Joseph Süß Oppenheimer, der 1738 vor zahlreichen Schaulustigen gehenkt wurde, zählt zu den bekanntesten Prozessen der deutschen Rechtsgeschichte. Das Opfer dieses Justizmords geriet auch in den folgenden Jahrhunderten nicht in Vergessenheit, sondern wurde zum Gegenstand unterschiedlichster (Zerr-)Bilder, hinter denen die historische Figur bis zur Unkenntlichkeit verschwimmt. Der umfangreich erhaltenen Prozessüberlieferung steht Yair Mintzker allerdings mit zu viel Skepsis gegenüber, als dass er mit einem Abstand von nahezu drei Jahrhunderten ein "Wiederaufnahmeverfahren" (22) anstrebte.
Er geht von der Annahme aus, dass Verhörprotokolle, die vom Sekretär einer voreingenommen agierenden Untersuchungskommission angefertigt wurden, nichts über Oppenheimers eigene Sicht auf die Dinge verraten. Folglich lehnt er es ab, diese Texte "gegen den Strich" zu lesen, um auf Umwegen doch zur Gedankenwelt des Angeklagten durchzudringen. Ebenso wenig kommt er indes zu dem Schluss, die Quellen links liegen zu lassen. Stattdessen präsentiert der Autor sein Konzept einer "polyfonen" Geschichtsschreibung (26), die ihr Augenmerk auf den Entstehungskontext von Texten und die von den Schreibern befolgten kulturellen Codes richtet. Auf diese Weise nimmt Mintzker anstelle des quellenbedingt sprachlosen Objekts Oppenheimer einige schreibende Subjekte ins Visier, die entweder unmittelbar am Verfahren beteiligt waren oder sich publizistisch dazu äußerten.
Den Auftakt bildet ein Kapitel über den Untersuchungsrichter Philipp Friedrich Jäger, der 1707 als Sohn eines Schorndorfer Stadtschreibers geboren wurde. Mintzker verfolgt den Bildungsweg des an der Universität Tübingen promovierten Juristen und beleuchtet dessen 1735 erfolgte Ernennung zum Fiskal im Prozess gegen Christina Wilhelmina von Würben, die Mätresse des verstorbenen Herzogs Eberhard Ludwig von Württemberg. Der Autor betont die zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen diesem Prozess (der zu Jägers Leidwesen mit einem Vergleich endete) und dem zwei Jahre später eingeleiteten Verfahren gegen Oppenheimer. In beiden Fällen lief die Anklage darauf hinaus, ein Ausländer habe den Zugang zum Herzog monopolisiert und die Staatsgeschäfte mit Hilfe von Korruption zum Nachteil der einheimischen Machtelite an sich gerissen.
1737 zum Mitglied der Untersuchungskommission gegen Oppenheimer ernannt, wirkte Jäger an den monatelangen Verhören so intensiv mit wie keiner seiner Kollegen. Anhand der umfangreichen Protokollüberlieferung zeichnet Mintzker die tastende Arbeit der Kommission nach, von der rasche Ergebnisse erwartet wurden, obwohl sie gegen den Angeklagten nichts Konkretes in der Hand hatte. Jäger agierte dabei als fachlich versierter und arbeitsamer Jurist, der die vorgefassten Meinungen seines gesellschaftlichen Milieus teilte und sich um formale Legalität bemühte, um den Eindruck eines ergebnisoffenen Verfahrens zu erwecken.
Im Anschluss wendet sich der Autor dem konvertierten Juden Christoph David Bernard zu, der an der Universität Tübingen als Lektor für Hebräisch, Aramäisch und rabbinische Literatur wirkte. Bernard kam mit dem Prozess durch die ihm übertragene (und tendenziös ausgeführte) Übersetzung beschlagnahmter jiddischer Dokumente in Berührung. Darüber hinaus erhielt er in den Tagen vor der Hinrichtung zweimal Gelegenheit, Oppenheimer im Gefängnis zu besuchen, worüber er sich noch 1738 auch publizistisch äußerte. Sein dialogisch aufgebautes Buch folgte den Konventionen der akademischen Disputationsmethode, die er in den vorangegangenen Jahren mit bescheidenem Erfolg bei diversen Konversionsversuchen gegenüber Juden eingesetzt hatte. Plausibel erscheint Mintzkers Vermutung, dass sich in dem von Bernard gezeichneten Bild Oppenheimers als eines verstockten Juden die Vorurteile und Anfeindungen spiegeln, denen der konvertierte Autor von Seiten der christlichen Gesellschaft zeitlebens selbst ausgesetzt war.
Dass die Reaktionen auf den Prozess innerhalb der jüdischen Gemeinschaft keineswegs einheitlich ausfielen, wird im anschließenden Kapitel über den württembergischen Hofjuden Mordechai Schloß deutlich. Als nach Oppenheimers Sturz einige von dessen jüdischen Konkurrenten die Gelegenheit zur Begleichung alter Rechnungen nutzten, belastete auch Schloß - womöglich um sich selbst zu retten - den Angeklagten schwer. Zudem besuchte er den Häftling gemeinsam mit Bernard und seinem späteren Schwiegersohn Callman Bing und veröffentlichte gemeinsam mit Letzterem nach der Hinrichtung einen jiddischen Traktat. Mintzker geht der Frage nach, warum Oppenheimer in diesem Dokument in die Nähe des biblischen Josef gerückt wird. Seine umsichtige Analyse legt die Vermutung nahe, dass die Analogie zwischen dem württembergischen Hofjuden und dem Berater des Pharaos, der seinen Brüdern Vergebung für das erlittene Leid gewährte, vor allem auf die Gewissensbisse der Autoren zurückzuführen ist.
Die vierte und letzte Studie ist dem Leipziger Schriftsteller David Fassmann gewidmet, der eine populäre Moralische Wochenschrift herausgab, in der er verstorbene Persönlichkeiten nach antikem Vorbild über politische und gesellschaftliche Fragen diskutieren ließ. Mit Württemberg setzte sich Fassmann in diesem Periodikum mehrfach auseinander, wobei sich das von Oppenheimer gezeichnete, anfangs durchaus positiv konnotierte Bild zwischen 1734 und 1738 merklich verfinsterte, was Mintzker mit einem Seitenblick auf die moderne Geschichtswissenschaft zum Anlass nimmt, die Volatilität historischer Einschätzungen zu betonen.
Dem Autor ist es gelungen, der umfangreichen Oppenheimer-Literatur einen innovativen Beitrag hinzuzufügen. Der Grundgedanke seines polyfonen Ansatzes ist zwar keineswegs neu. Schließlich kann es als Allgemeinplatz gelten, dass historische Quellen in ihren Kontext zu stellen sind und uns nicht verraten, "wie es eigentlich gewesen" ist. Gleichwohl beeindruckt die Konsequenz, mit der Mintzker darauf beharrt, Texte auf das schreibende Subjekt hin zu interpretieren und Oppenheimer als "das abwesende Zentrum des Buches" (139) zu behandeln. Durch Offenlegung der kulturellen Codes der Schriftgutproduzenten gelingt ihm eine überzeugende Einbettung des Verfahrens in frühneuzeitliche Lebenswelten und deren miteinander verknüpfte Konfliktlinien.
Darüber hinaus liegt eine reflektierte Kritik an den narrativen Strukturen der Geschichtswissenschaft vor, die auch jenseits der jüdischen Geschichte Beachtung verdient. Beispielsweise ist es kein Alleinstellungsmerkmal des frühneuzeitlichen Strafprozesses, dass es vor Gericht gerade die Parteien sind, die in den von Juristen für Juristen verfassten Akten am wenigsten zu Wort kommen. Dies war im schriftlichen Zivilverfahren der Vormoderne nicht anders, da sich der unmittelbare Anteil der Partei an der Aktenbildung nicht selten in einer Unterschrift unter der Anwaltsvollmacht erschöpfte. Auch hier steht eine Forschung, die sich bislang kaum für den Prozess richterlicher Kognition und dessen (organisations-)soziologische Bedingungen interessiert, vor der Frage, inwiefern auf einer solchen Grundlage "akteurszentrierte" Studien über die "Justiznutzung" der Parteien geschrieben werden können. Insofern mahnt Mintzkers vorzügliche Studie dazu, über einen methodenbewussteren Umgang mit Prozessschriftgut nachzudenken.
Tobias Schenk