Elias Muhanna: The World in a Book. Al-Nuwayri and the Islamic Encyclopedic Tradition, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2018, XIII + 214 S., ISBN 978-0-691-17556-0, USD 39,95
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Mit seiner Studie über an-Nuwayrīs Nihāyat al-arab trägt Elias Muhanna dazu bei, ein lang bestehendes und oft angesprochenes Desideratum in der Mamlukenforschung zu beseitigen. An-Nuwayrīs "Enzyklopädie" - wobei die Verwendung dieser Bezeichnung keinesfalls die von Muhanna deutlich herausgearbeitete generische Hybridität nicht nur der Nihāya, sondern arabischer "enzyklopädischer" Formen des 13.-15. Jahrhunderts überhaupt verschleiern darf - gehört zu der großen, im Vergleich zum tatsächlich produzierten Schrifttum dieser drei Jahrhunderte wiederum sehr kleinen Auswahl von Texten, die von der Forschung intensiv als Quellen genutzt und dabei, wie Muhanna es formuliert, instrumentalisiert wurden. Nicht die Texte, ihre Entstehungskontexte und intendierten Aussagen standen dabei im Vordergrund, sondern die pure Nutzbarkeit als 'Steinbrüche' für ereignisgeschichtliche Ansätze, die die intellektuelle Positionierung ihrer Quellen nur selten in die Betrachtung miteinbezogen. So richtig diese grundsätzliche Feststellung ist, so sollte doch gerade am Beispiel an-Nuwayrīs nicht verschwiegen werden, dass zu diesem Autor und seinem Werk bereits einige Studien existieren, die über die von Muhanna kritisierte Ausschlachtung als Informationsquelle hinausgehen und an-Nuwayrī auch schon unter dem Gesichtspunkt der Komposition und des Genres zumindest mitbetrachtet haben. [1] Warum der Autor diese in seiner Einleitung ohne weitere Nennung als "few exceptions" übergeht, bleibt wohl sein Geheimnis. Trotzdem bleiben die Fragen, die Muhanna zum Aufhänger seiner Studie macht, zentral für eine weitere Erforschung der intellektuellen Kontexte, die die Produktion von Wissen in der Mamlukenzeit prägten: Warum, so fragt er, kam es in der Mamlukenzeit zu einem solchen Boom von Nachschlagewerken, Handbüchern, Kompendien und 'Enzyklopädien' zu allen möglichen Bereichen der islamischen Gelehrsamkeit, und eben auch zu einem Boom von universalhistorischen Kompendien? Was erzeugte diesen Drang, vorhandenes Wissen zu kompilieren, neu zu ordnen und in verschiedener Form aufbereitet wieder zu präsentieren?
Auf diese Grundfragen antwortend stellt der Autor die Hypothese auf, diese boomende Sammelwut sei nicht - wie häufig angenommen - durch Existenzängste im Angesicht der mongolischen Eroberungen (weitere existenzielle Bedrohungen der Zeit, wie etwa die Pest nennt er nicht) ausgelöst worden. Vielmehr sei der Auslöser im exponentiell gewachsenen Angebot an verfügbarer Expertise in der Region, insbesondere den Zentren Damaskus und Kairo zu sehen. Muhanna interpretiert die Blüte von Kompendien und verwandten Genres, zu denen er auch die Universalgeschichte zählt, demnach als Versuch einer intellektuellen Community, Wissen zu ordnen und leicht verfügbar zu machen. Diese These hat sicherlich ihre Berechtigung, sollte aber wohl weniger als Ersatz, denn als Ergänzung zur Betrachtung im Kontext der mongolischen Eroberungen gesehen werden. Nicht zuletzt ist die Konzentration arabischer Gelehrtenkultur westlich der Euphrat-Taurus Grenze in dieser Zeit ja eine Folge derselben.
Seine in sechs Kapitel gegliederte Studie geht den Grundfragen des Warum und Woher nun exemplarisch an an-Nuwayrīs Nihāya nach, weist aber weit über diesen Text und seinen Autor hinaus. Verdienstvoll beginnt schon das erste Kapitel, indem der Autor den Terminus 'encyclopedia' sowie seine Verortung in der arabischen Schriftkultur problematisiert. Muhanna entscheidet sich aufgrund dieser Überlegungen, seinen Ansatz weniger an einem (europäisch vorgeprägten und in der arabischen Schriftkultur ambiguen) Genrebegriff festzumachen, sondern den abstrakteren, eine intellektuelle Haltung beschreibenden Begriff "encyclopedism" zur Grundlage der weiteren Untersuchung zu machen. Der Vorteil dieser Setzung ist evident: Definiert man "encyclopedism" als ein "set of shared motifs and ambitions and techniques" (Muhanna: 12), die Produzenten als auch Rezipienten von 'wissensordnenden' oder Wissen aufbereitenden Texten teilen, so öffnet dies einen analytischen Raum, in dem eine Anzahl von Genres - und eben auch hybride Formen - betrachtet werden können, ohne in missverständliche und potenziell verzerrend europäisierende Genrezuschreibungen zu verfallen oder die Betrachtung künstlich auf ein Genre zu verengen.
In den weiteren Kapiteln betrachtet Muhanna an-Nuwayrī und sein Werk in verschiedenen Kontexten, deren Einflüsse sich sowohl im Leben des Autors, als auch in der Gestalt seines Werkes niederschlagen. Das zweite Kapitel befasst sich mit der thematischen Struktur der Nihāya und nimmt damit das zentrale verbindende Element in den Blick, dass den 'encyclopedism' ausmacht: Die Ordnung von Wissen. Die Ausführungen bleiben nicht auf den angekündigten Überblick über an-Nuwayrīs Ansatz beschränkt; vielmehr nimmt Muhanna die Nihāya als Ausgangspunkt für eine vergleichende Betrachtung im Kontext weiterer dem 'encyclopedism' zuzurechnender Texte. So, wie die strukturellen und thematischen Eigenheiten der Nihāya und der zum Vergleich herangezogenen Werke von Hybridität (z.B. in generischer Hinsicht) geprägt sind, so ist Hybridität auch ein roter Faden, der sich durch die weitere Analyse zieht. An-Nuwayrī selbst als Person erscheint aus Muhannas Darstellung als ein menschgewordener Schnittpunkt in einem Netzwerk verschiedenster Milieus: Während Kapitel drei seine Einbindung in verschiedene madrasa-Kontexte seiner Zeit untersucht, lokalisiert das folgende Kapitel den Autor zudem in Bezug auf seine Einbindung ins Milieu der Kanzleischreiber und Sekretäre - einem Kontext, in dem an-Nuwayrī ebenfalls signifikante Teile seines Lebens verbrachte. So wenig unabhängige Informationen über den Autor selbst auszumachen sind und seine individuelle Biographie jenseits seiner spärlichen Selbstzeugnisse, die über die Nihāya verstreut sind, eher schwer greifbar bleibt [2], so ist er doch ob seiner Positionierung in den verschiedenen sozialen Gruppen, quasi als Schnittmenge derselben, ein idealer Ausgangspunkt für die Kartierung der vielfältigen Zusammenhänge, durch die sich die Wissensproduktion in der Mamlukenzeit auszeichnete.
Muhanna untersucht folgerichtig nicht nur die Milieus, in die der Autor eingebunden war, sondern widmet ein Kapitel den für die Zeit und das Feld des 'encyclopedism' charakteristischen Schreibstrategien - Kompilation, Kollation, und nicht zuletzt dem Kopieren autoritativer Texte. Natürlich kann ein einziges Kapitel in einer knapp 200 Seiten starken Studie dieses Feld nicht erschöpfend behandeln, ebenso wenig, wie die emische wie etische Rezeptionsgeschichte in einem knapp 20-seitigen Kapitel en detail diskutiert werden kann - was aber weder das Ansinnen noch der anzulegende Anspruch an eine den Überblick über ein monumentales Werk vermittelnde Studie wie die vorliegende ist. Der Charme dieser Studie liegt ja gerade darin, dass sie auf schlanken 200 Seiten einen fundierten, aber nicht zu sehr mit Details überladenen Einblick in verschiedene Zugangswege gibt, die allesamt beschritten gehören, wenn man zu einem wirklich vertieften Verständnis der Wissensproduktion in dieser Zeit kommen will. Einen Ansatz spart das "kleine Buch über ein großes Buch", wie der Autor selbst seine Studie im Vorwort bezeichnet, aus: Dies ist eine Beschäftigung mit den textinhärenten Erzählstrategien, dem individuellen oder aus generischen Vorbildern übernommenen narrativen re-emplotment durch an-Nuwayrī. Sicher hätte jedoch der Versuch, ein derartiges Unternehmen auch noch in eine Monographie zu integrieren, den Rahmen gesprengt. Es sei daher auf eine weitere Publikation zu der Nihāya verwiesen, die sich explizit einer narratologischen (und kompilatorischen) Analyse eines fest definierten Abschnitts aus der Nihāya widmet, nämlich der Mongolengeschichte. [3] Nicht der monumentale Umfang der 31-bändigen Nihāya ist der Grund dafür [4], dass beide Studien sich hervorragend ergänzen, jedoch keinesfalls doppeln: Dies ist vielmehr als Beweis dafür zu lesen, wieviel spannende Arbeit noch zu tun ist, selbst wenn man den Blick auf einen Text und Autor konzentriert.
Anmerkungen:
[1] Zu denken ist z.B. an Mouinra Chapoutot-Remadi: An-Nuwayri (1279-1332): Encyclopediste et chroniquer de l'epoque mamluke, in: Charles-Andre Julien (éd.): Les africains, Vol. 10, 311-39. Paris 1978; Amīna Muḥammad Ǧamāl ad-Dīn: An-Nuwayrī wa-kitābuhu Nihāyat al-arab fī funūn al-adab: maṣādiruhu al-adabīya wa-ārāʾuhu an-naqdīya, Cairo 1984; ʿAbd al-ḥalīm an-Nadwī: Manhaǧ an-Nuwayrī fī kitābihi Nihāyat al-arab fī funūn al-adab: baḥṯ wa-dirāsa muqārana wa-naqd, Damaskus 1987. Erwähnenswert sind auch Thomas Herzogs Bemerkungen zu an-Nuwayrī, die Muhanna nicht berücksichtigt: Thomas Herzog: Social milieus and worldviews in Mamluk adab-encyclopedias: The example of poverty and wealth, in: Stephan Conermann (ed.): History and Society during the Mamluk Period (1250-1517), Göttingen 2014, 61-81, und ders.: Composition and Worldview of some Bourgeois and Petit-Bourgeois Mamluk Adab-Encylopedias, in: Mamluk Studies Review 12 (2013), 100-129.
[2] Siehe dazu auch Anna Katharina Angermann: Das Unfassbare fassen und zu Geschichte formen: An-Nuwayrīs Ḏikr aḫbār ad-dawla al-Ǧingizḫānīya. Überlegungen zu Entstehung, Gestalt und Sinn, Bonn 2020, 6ff. Online verfügbar unter: https://bonndoc.ulb.uni-bonn.de/xmlui/bitstream/handle/20.500.11811/8315/5738.pdf?sequence=1&isAllowed=y (01.02.21)
[3] Siehe Anmerkung 2.
[4] Muhanna liefert im Appendix dankenswerterweise eine tabellarische Übersicht über die Inhalte und eine Kollation der Editionen.
Anna Kollatz