Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität. Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970-1990 (= Pariser Historische Studien; Bd. 113), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, 390 S., ebook, ISBN 978-3-11-061308-7, EUR 51,95
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Der Begriff "Armut" war und ist stets umstritten, nicht nur hierzulande. Sarah Haßdenteufel vergleicht in ihrer Dissertation die gesellschaftspolitische Wahrnehmung dieses sozialen Phänomens zwischen der Bundesrepublik und Frankreich. Im Zentrum ihrer Untersuchung steht die Frage, wie Debatten über Armutsrisiken funktionierten und welche politisch-gesetzgeberischen Antworten auf diese Herausforderung formuliert wurden. Dabei interessiert Haßdenteufel weniger die Ausprägung sozialer Not, sondern vielmehr die damit verbundene kommunikative Verarbeitung. Hieran ließen sich grundsätzliche Vorstellungen gesellschaftlicher In- und Exklusion ablesen. In beiden Ländern nahm das Thema nach 1945 alles andere als einen zentralen Platz auf der politischen Agenda ein. Das änderte sich seit den mittleren 1970er Jahren, als hier wie dort ein Aufbrechen dieser politischen Nicht-Thematisierung konstatiert werden kann. Diese Beobachtung bildet den terminus post quem der komparativen Analyse, ist hier doch ein markanter Bruch bei der kommunikativen Verhandlung von Armut auszumachen.
Vom besonderen Interesse sind für Haßdenteufel erstens, welche Bevölkerungsgruppen und welche sozialen Problemlagen unter dem Rubrum "Armut" zeitgenössisch diskutiert wurden. Die damit transportierten Vorstellungen von Armut werden von ihr in einem zweiten Schritt näher untersucht, bevor sie drittens verschiedene Akteure und die jeweiligen Modi politischer (Armuts-)Kommunikation betrachtet, die sich aus unterschiedlichen Gründen als "Lobby" der Armutsbevölkerung verstanden - oder das Thema gezielt abwehrten. Davon ausgehend fragt die Autorin viertens nach den mit diesen Aushandlungen verknüpften sozialpolitischen Folgen. Im Zentrum ihrer Ausführungen stehen verschiedene Akteure in Parteien, Parlamenten, Ministerialbürokratien und Wohlfahrtsverbänden, was eine breite empirische Unterfütterung (Parlamentsprotokolle, Wahlprogramme, Parteizeitschriften, Presseausschnittsammlungen, Verbandszeitschriften) ergibt.
Seit den 1970er Jahren, so macht Haßdenteufel deutlich, wurde sowohl in Frankreich als auch in der Bundesrepublik zunehmend häufiger von sozialen "Randgruppen" (beziehungsweise "marginaux") gesprochen. Im Mittelpunkt stand dabei nicht die materielle Armut, sondern vielmehr deren sozialer Ausschluss und ihre geringen Chancen auf soziale Teilhabe. Während in Frankreich die Einführung neuer Mindestsicherungssysteme etwa für Behinderte, Witwen und Alleinerziehende erwähnenswert ist, führte die wachsende Sensibilität zu einer Debatte über Lücken in der sozialen Sicherung, die der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (innerparteilich keineswegs unumstritten) in der These einer "Neuen sozialen Frage" öffentlichkeitswirksam zuspitzte und damit Gewerkschaften und Bundesregierung frontal angriff. In der Bundesrepublik wie in Frankreich avancierte der Blick auf arme Bevölkerungsgruppen im politischen Diskurs fortan zu einem probaten Mittel der Regierungskritik. Auffällig für beide Länder ist außerdem die wachsende Bedeutung wissenschaftlicher Studien und Statistiken, also der Mess- und Zählbarkeit von Armut. Der Bedarf an Wissen als Reaktion auf weitgehendes Nicht-Wissen wuchs seinerzeit merklich an.
Demgegenüber gerieten in den 1980er Jahren hier wie dort die strukturelle Arbeitslosigkeit und die Langzeitarbeitslosigkeit in das Blickfeld. In Frankreich stieg die Arbeitslosenquote 1985 erstmals über die Zehn-Prozent-Marke, in der Bundesrepublik hatte sie ihren Höchststand zwei Jahre zuvor mit acht Prozent erreicht. Diese Entwicklungen strukturierten auch das Sprechen über eine "Neue Armut", denn beide Länder waren mit vergleichbaren Problemen, nämlich der Herausbildung neuer Armutsrisiken, konfrontiert. Das Attribut "neu" versinnbildlicht den Wandel eines bekannten Phänomens, wobei dieser in Frankreich eher "von unten" forciert wurde, ausgehend von den lokal wirkenden Männern und Frauen, die damit auf den Anstieg und den Wandel von Unterstützungsbedarf hinwiesen. Von diesen Initiativen aus wandten sich zunehmend Politik und Verwaltung dem Thema zu, was in der Veröffentlichung der ersten französischen Armutsberichte mündete. Gleichzeitig konturierte Armut in einem noch stärkeren Maße als noch zuvor politische Debatten; dabei wurde das Thema immer stärker durch die jeweilige politische Opposition okkupiert. Hierbei waren allerdings die Vorzeichen in beiden Ländern umgekehrt: Zunächst war es die CDU, die in der Bundesrepublik das Thema auf das Tapet brachte; ein knappes Jahrzehnt später, als die Partei das Interesse hieran verloren hatte und auf Bundesebene in der Regierungsverantwortung stand, war es die SPD, nach 13 Jahren wieder in der Oppositionsrolle, sowie der Gewerkschaftsbund, die das Thema lancierten. Diese richteten sich wiederholt und nachdrücklich gegen die Einschnitte am Netz der sozialen Sicherung, bezogen vor allem auf Arbeitslosengeld und -hilfe sowie die Sozialhilfesätze. In Frankreich hingegen war es der damalige konservative Pariser Bürgermeister Jacques Chirac, welcher nach dem Wahlsieg des Sozialisten François Mitterand 1981 dessen Regierung unaufhörlich die Ausdehnung der "Neuen Armut" vorwarf. Haßdenteufel rekonstruiert ein Wechselspiel aus Schuldvorwürfen und Anklagen auf der einen und einem Bagatellisieren und Rechtfertigen auf der anderen Seite, das zumindest in Frankreich aber auch mit sozio- beziehungsweise armutspolitischen Maßnahmen einherging.
Akribisch wird die Debatte um die "Neue Armut" nachvollzogen, die bis in den Bundestag gelangte. Letztlich beschäftigte die "Neue Armut" im Herbst 1984 beinahe zeitgleich beide Parlamente - wenngleich die unterschiedlichen Akteure teils abweichende Verortungen von Armut vornahmen und verschiedene sozialpolitische Forderungen artikulierten. Am Ende entwickelten sich daraus in der Bundesrepublik Überlegungen zu einer Grundsicherung. In Frankreich wurde das Gesetz über die garantierte Mindestsicherung letztlich 1988 verabschiedet, was eine dauerhafte und tiefgreifende Änderung am sozialen Sicherungssystem markierte. Im Gegensatz zur Bundesrepublik habe die französische Regierung das Thema grundsätzlich anerkannt und ihre Zuständigkeit akzeptiert, wodurch es zu einer umfassenden Politisierung und Institutionalisierung des Gegenstandes als Kategorie sozialstaatlichen Handelns gekommen war. Die Bundesregierung sei hingegen vor allem mit der diskursiven Abwehr und De-Thematisierung beschäftigt gewesen. Von der Autorin wird dieser Umstand unter anderem mit den parteipolitischen Ausrichtungen der jeweiligen Regierungen erklärt, aber auch mit den unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten hier wie dort. Das Ergebnis war eine ausgeprägte Diskussion in Frankreich um den Begriff der Exklusion sowie damit verbunden der sozialen Kohäsion. Außerdem lässt sich eine ungleich größere Bereitschaft der Regierung beobachten, aktiv gegen Armut zu intervenieren, was sich bereits im Jahr 1984 mit der Verabschiedung des Programms zur Bekämpfung der "Neuen Armut" gezeigt hatte. Parallelen in der Debatte in beiden Ländern ebenso wie die Unterschiede in der Politik der Armutsbekämpfung zeigen, dass es sich dabei immer auch um Diskussionen um einen Vertrauensverlust bezüglich der Reichweite und Effektivität sozialstaatlicher Präventions- und Interventionsmechanismen gehandelt hat.
Auch wenn nicht alles vollkommen neu ist, was Leserinnen und Leser über die bundesdeutschen Armutsdiskussionen erfahren, werden gerade sozialhistorisch und sozialstaatsgeschichtlich interessierte Leser dieses Buch mit Gewinn lesen. Denn Haßdenteufels kenntnisreiche und quellengesättigte Studie belegt den Mehrwert eines Vergleichs, der unterschiedliche Grade und Modi von Politisierung, Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung in zwei wohlhabenden, hochentwickelten Industrieländern in den Blick nimmt.
Christoph Lorke