Winfried Baumgart: Friedrich Freiherr Kreß von Kressenstein. Bayerischer General und Orientkenner. Lebenserinnerungen, Tagebücher und Berichte 1914-1946, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, 741 S., 3 Kt., ISBN 978-3-506-70344-6, EUR 89,00
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Friedrich Freiherr Kreß von Kressenstein, aus einer Nürnberger Patrizierfamilie entstammender bayerischer Berufssoldat und späterer General der Reichswehr, dürfte nur wenigen bekannt sein. Der 1870 geborene Kreß hat eine durchaus spannende Karriere durchlaufen, die ihn als bayerischen Offizier in den Orient führte und der später in der Reichswehr bis zum faktisch höchsten Dienstgrad aufstieg. Sein Lebensweg steht dabei pars pro toto für denjenigen eines deutschen Offiziers, der aus der Monarchie kommend der Republik diente und später noch den Nationalsozialismus erleben und erleiden musste - dies nur bezogen auf seinen Lebensabend im ausgebombten München.
Winfried Baumgart, emeritierter Mainzer Professor und Altmeister der Editionen, hat nunmehr die Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Kreß einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Es handelt sich dabei um fünfteilige Aufzeichnungen, die Kreß wohl erst nach seiner aktiven Dienstzeit, wahrscheinlich aber zu unterschiedlichen Zeiten verfasst hat. Baumgart hat in seiner Edition diejenigen Passagen weggelassen, die sich der frühen Kindheit und den jungen Jahren im Militär widmen, sowie diejenigen Jahre nach der Pensionierung - die dabei dann völlig im Dunkeln bleiben und wohl eine "Frauengeschichte" zum Hintergrund hatten - weil er sie allenfalls für biographisch interessant hält. (9) Baumgart erweiterte seine Edition mit wenigen Berichten in der Überlieferung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, die Kreß während seiner Kaukasusmission 1918 angefertigt hatte. Die meisten Aufzeichnungen lagen dabei als maschinenschriftliche Abschriften ursprünglich handschriftlicher Tagebuchaufzeichnungen vor, die Kreß seinerzeit wohl beinahe täglich angelegt hatte.
Kreß trat 1888 nach dem Abitur in die bayerische Armee ein und "durchlief die Ausbildung [zum Offizier] in normalen Etappen": Truppe, Truppenschule und Generalstabsdienst. 1911 kam er als Major erstmals in bayerische Kriegsministerium. Er verließ diese Armee 1913 -1914 "zur Disposition" gestellt, also einstweiliger Ruhestand mit Pension, bis 1918 - und diente fortan in den Streitkräften des Osmanischen Reiches, als Kommandeur einer Artillerieschule sowie in der Mobilmachungsabteilung. Dort wurde er befördert, später wurde er wieder in den deutschen Streitkräften rangniederer eingereiht. Anfang Mai 1918 kam er als stellvertretender bayerischer Bevollmächtigter ins Große Hauptquartier, um wenige Wochen später nach Georgien entsandt zu werden. Dort sollte er den Aufbau neuer Streitkräfte des gerade souverän gewordenen Staates organisieren, auch damit diese im Süden des früheren russischen Reiches im deutschen Interesse militärisch aktiv werden könnten. Tatsächlich aber zeigen die Berichte von Kreß, auf welchen Nebensträngen die Oberste Heeresleitung versuchte, Außenpolitik im Niedergang an Randschauplätzen zu machen. Mit dem Kriegsende 1918 war dieses dann Schall und Rauch.
Obwohl 1918 auf Wunsch der 3. Obersten Heeresleitung zum Generalmajor befördert, wurde Kreß 1919 - nach Intermezzi im bayerischen Generalstab und im Auswärtigen Amt - als Oberst im sich neu bildenden Reichswehrministerium erst Chef des Waffenamtes und danach Chef des Wehramtes. Er erlebte den Kapp-Lüttwitz-Putsch, an dessen Niederschlagung er unmittelbar beteiligt gewesen sein soll (ohne dass das aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht). 1923/24 wurde er infolge des Hitler-Putsches und der bayerischen Turbulenzen Kommandeur der 7. Infanteriedivision und Befehlshaber im Wehrkreis VII sowie Landeskommandant in Bayern. 1928 wechselte er zum Reichswehrgruppenkommando 2 nach Kassel, das er bis zu seiner Zurruhesetzung 1930 (17) unter von Baumgart nur angedeuteten Umständen führte (163-224). Die Zeit danach, der Umbruch nach 1933, bleibt im Buch im Dunkeln. Diese Aufzeichnungen hat Baumgart leider ausgelassen, ohne es zu erklären. Erst das Kriegsende 1945 und Kreß' Zeit als ausgebombter Junggeselle nimmt wieder größeren Raum im Buch ein (225-289).
Eine "Meisterleistung" (so Baumgart, 17) sind im Buch die Schilderungen Kreß' zu seiner Zeit im Reichswehrministerium: Nirgendwo sonst finden wir in der Memoirenliteratur so freimütige Charakteristiken von damaligen Akteuren, zumal der Militärs: Gustav Noske, Walther Reinhardt, Hans von Seeckt, der offensichtlich immer wieder Geldprobleme hatte (169-170), und viele mehr werden als Persönlichkeit schonungslos beschrieben und offenbaren sich mit ihren Stärken und Schwächen. Im Gegensatz zu vielen anderen Schriften lobt Kreß den damaligen Reichswehrminister Otto Geßler weit über Gebühr: "Otto, der ewige Kleber", wie der SPD-Reichstagsabgeordnete und ehemalige Offizier und Freikorpskämpfer Julius Leber den nationalliberalen Politiker verunglimpfte, "war ein ausgezeichneter politischer Taktiker und ein wahrer Künstler im Spielen des parlamentarischen Instruments. Er kannte genau die Mängel des Systems und die menschlichen Schwächen der sogenannten Volksvertreter. Er nützte diese nach Möglichkeit aus und scheute sich auch keineswegs, im Interesse der von ihm vertretenen Sache die Volksvertreter gehörig anzulügen." (178-179).
Insgesamt formuliert er ein Credo für den Volksvertreter als Reichswehrminister, wie es in der Memoirenliteratur deutscher Soldaten einmalig sein dürfte: "... was der geschickte und gewiegte [sic! "gewiefte"?] Parlamentarier Geßler für die Armee getan und erreicht hat, das hätte kein General als Reichswehrminister fertig gebracht." (224)
Winfried Baumgart legt eine spannende Edition vor, die das militärpolitische Denken eines bayrisch-deutschen Generals und sein Menschenbild anschaulich dokumentiert, latenter Antisemitismus inklusive (z. B. auf Seite 166: "unendlich viel Gesindel - besonders Ostjuden - trieb sich auf den Straßen herum"). Schade ist nur, dass Baumgart sich in seinen Kommentaren auf das Allernotwendigste beschränkt und damit Anknüpfungen an neuere Forschungen gerade jungen Leser*innen nicht anbietet. Wahrscheinlich hätte er das als Rezensent deutlich kritisiert.
Heiner Möllers