Winfried Baumgart (Hg.): Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg 1909-1921. Rekonstruktion seines verlorenen Nachlasses. 2 Teilbände (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 78), Berlin: Duncker & Humblot 2021, XII + 1522 S., ISBN 978-3-428-18197-1, EUR 139,90
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Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921) ist von Konrad H. Jarausch, in seinem 1973 erschienenen Buch "The Enigmatic Chancellor. Bethmann Hollweg and the hubris of imperial Germany" nicht ganz zu Unrecht als "rätselhafter" Kanzler bezeichnet worden. Als wenig charismatische Persönlichkeit, dessen Politik häufig mit Begriffen wie zaudernd, zu konziliant in der Sache und wenig erfolgreich umschrieben wurde, und als der Reichskanzler, in dessen Amtszeit der Ausbruch der Ersten Weltkriegs fiel, taugte er für potentielle Biographen weder zum sympathischen bzw. tragischen Helden noch zum Schurken. Dies erklärt wohl mit, warum eine umfassende, quellenfundierte Biographie Bethmann Hollwegs bis heute ein Desiderat der Forschung ist. Das Schwanken, um mit Friedrich von Schiller zu sprechen, seines Charakterbilds in der Geschichte zeigt sich auch in der Einleitung des vorzustellenden Werks: So spricht Hans-Christof Kraus in seinem Geleitwort davon, dass Bethmann Hollweg nach Otto von Bismarck wohl der bedeutendste Kanzler des deutschen Kaiserreichs gewesen sei, dessen Amtszeit grundlegende Entscheidungen und zentrale innen- wie außenpolitische Weichenstellungen für die weitere Geschichte Deutschlands umfasst habe (V) und bezeichnet ihn, anknüpfend an den britischen Historiker George Gooch als einen jener "great gentlemen" der internationalen Politik vor der "Urkatastrophe Europas" (VI). Der Editor Winfried Baumgart nennt Bethmann Hollweg dagegen eine der umstrittensten Figuren der Geschichte des 20. Jahrhunderts, der schon von seinen Zeitgenossen kontrovers beurteilt worden sei (1) und verweist in diesem Zusammenhang auf Klaus Hildebrands 1970 erschienenen Essay "Bethmann Hollweg. Der Kanzler ohne Eigenschaften? Urteile der Geschichtsschreibung. Eine kritische Bibliographie".
Dieser Befund ist auch eine Folge der Tatsache, dass ein wirklicher Nachlass Bethmann Hollwegs nicht mehr existiert. Sein Privatarchiv auf seinem Gut in Hohenfinow (Provinz Brandenburg) verbrannte am Ende des Zweiten Weltkriegs bis auf wenige Restbestände, die sich heute im Bundesarchiv Koblenz befinden. Baumgart unternimmt es, wie es im Untertitel der Edition heißt, den verlorenen Nachlass zu rekonstruieren, wobei damit konkret gemeint ist, dass "alle von Bethmann Hollweg stammenden Schriftstücke amtlicher und privater Natur in möglichster Vollständigkeit" veröffentlicht werden sollen (IX). Es geht also um heute noch vorhandenes Archivgut, nicht um die Rekonstruktion der verlorenen Bestände. Hierzu hat Baumgart zum einen aus den unterschiedlichsten Archiven eine umfangreiche Sammlung von Briefen Bethmann Hollwegs zusammengetragen. Ein Teil dieser Briefe war bereits bekannt, andere werden hier erstmals der Forschung zugänglich gemacht. Zum andern hat Baumgart die einschlägigen Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin, des Bundesarchivs Berlin und des Bundesarchivs Koblenz nach Bethmann Hollweg zuzuordnenden amtlichen Schriftstücken durchforstet sowie im Geheimen Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem die Sitzungsprotokolle des preußischen Staatsministeriums ausgewertet. In vollem Wortlaut wurden in der Edition in der Regel nur die Stücke abgedruckt, die bisher unveröffentlicht waren, alle anderen werden im zweiten Teilband in Regestenform nachgewiesen.
Grundzüge seiner Sicht Bethmann Hollwegs legt Baumgart in einem einleitenden Essay dar, in dem er deutlich Stellung bezieht gegen das - sieht man von Eberhard von Vietschs 1969 erschienener Studie "Bethmann Hollweg. Staatsmann zwischen Macht und Ethos" und der von Günther Wollstein 1995 in der Reihe "Persönlichkeit und Geschichte" herausgebrachten knappen Biographie "Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende" (die seltsamerweise im Quellen- und Literaturverzeichnis fehlt) ab - bisher eher negative Bild des Reichskanzlers in der Forschung. Besonders betont er Bethmann Hollwegs realistischen Blick auf die Herausforderungen seiner Zeit: "In allen fundamentalen Fragen der damaligen deutschen Geschichte hatte er einen Weitblick und einen Durchblick wie keiner seiner Zeitgenossen" (4). Baumgart verweist hier vor allem auf folgende zutreffende Einschätzungen: Erstens, dass die Sozialdemokratie wegen ihrer Wahlerfolge die bisherige deutsche Parteienlandschaft fundamental verändern werde und die politische Führung darauf konstruktiv reagieren müsse. Zweitens seine Überzeugung, dass das preußische Dreiklassenwahlrecht geändert werden müsse, wofür er während des Ersten Weltkriegs auch gegen massive Widerstände unbeirrt eintrat. Drittens seine grundsätzliche Skepsis vor 1914 hinsichtlich der deutschen Flottenhochrüstung, die Großbritannien Deutschland dauerhaft entfremden musste. Viertens sein Widerstand gegen den unbeschränkten Uboot-Krieg, weil er richtig erkannte, dass dieser die USA in den Krieg gegen Deutschland treiben würde, was die bisherigen Kräfteverhältnisse grundlegend ändern musste. Hier nahm er auch den Konflikt mit den Militärs und einem beträchtlichen Teil der öffentlichen Meinung in Deutschland in Kauf. Besonders betont Baumgart Bethmann Hollwegs hohes Verantwortungsbewusstsein als Reichskanzler, dessen Autorität "als des obersten verantwortlichen Leiters der gesamten Reichspolitik ein Gut von nicht minderem Wert" für ihn war, wie er gegenüber dem gerne aufbrausenden Staatssekretär des Äußeren Alfred von Kiderlen-Wächter 1912 klar machte (Band I, Dok. 92). Diese Sichtweise war angesichts der Strukturmechanismen der Reichsverfassung, die dem Reichskanzler keine unmittelbare Zuständigkeit für Militärangelegenheiten zusprach, da diese dem "Allerhöchsten Oberbefehl", also dem Kaiser, zustand und angesichts der Tatsache, dass auch auf dem Felde der Außenpolitik ein "Durchregieren" gegen den Willen der Militärs praktisch nicht möglich war, durchaus selbstbewusst. In der Praxis zeigte sich immer wieder, dass Bethmann Hollweg sich in Machtkämpfen aufrieb. Ein folgenschwerer Fehler war es, dass er den Sturz des Generalstabschefs Falkenhayn mit dem Aufstieg Hindenburgs und Ludendorffs erkaufte. Er verkannte ganz offensichtlich Ludendorffs unbedingten Machtwillen, der letztlich auch Bethmann Hollwegs Sturz betrieb. Zutreffend stellt Baumgart fest, dass Bethmann Hollweg die notwendige Härte für solche Auseinandersetzungen fehlte. Er hatte nicht, wie Hermann Mertz von Quirnheim, ein höherer Offizier in der OHL und Vater des späteren Widerstandskämpfers Albrecht Mertz von Quirnheim, im Juli 1917 feststellte, "das Zeug zu einer Gewaltnatur, wie Ludendorff es ist." (Band II, Dok. Nr. 977*). Bethmann Hollweg war sich dessen auch bewusst. In einem Gespräch mit dem preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn gab er 1916 unumwunden zu, er sei kein Bismarck, man müsse eben mit dem auskommen, was man habe (Band II, Dok. 807*).
Winfried Baumgart hat mit seiner jüngsten Edition ein beeindruckendes Werk vorgelegt, das höchsten editionsphilologischen Ansprüchen genügt. Damit ist eine gute Basis vorhanden für eine systematische quellenfundierte Beschäftigung mit Bethmann Hollwegs Reichskanzlerzeit, die über die bisher vorhandenen Studien hinausgeht, sowie für eine erste umfassend aus den vorhandenen Quellen schöpfende Bethmann-Biographie. Offen muss bleiben, ob man heute, was die Lebensjahre vor 1909 anbelangt, über das hinauskommt, was Vietsch 1969 in seinem Buch zusammengetragen hat.
Matthias Stickler