Oliver F.R. Haardt: Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, Darmstadt: wbg Theiss 2020, 944 S., ISBN 978-3-8062-4179-2, EUR 40,00
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Ein beachtliches Buch von 850 Seiten Text ist anzuzeigen, das zwar trotz des Untertitels keine umfassende neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs darstellt, aber dessen Verfassungsgeschichte unter dem Blickwinkel des Föderalismus frisch betrachtet, die neuere Literatur einbezieht und Thesen formuliert. Gegen bisher (vermeintlich) zu statische Verfassungsgeschichte will der Autor die Verfassungsverhältnisse als "ganzheitliches kulturelles Phänomen" betrachten (11f.); indes kommt die Kulturgeschichte des Politischen etwa analog den Arbeiten Andreas Biefangs kaum vor. Und er möchte in seinem "Narrativ" den "erzählerischen Ansatz der angloamerikanischen mit der analytischen Genauigkeit der deutschen Geschichtsschreibung [...] verschmelzen" (18). Der Band ging aus einer Dissertation bei Christopher Clark in Cambridge 2017 hervor. In einem Zeitungsartikel zum Reichsgründungsjubiläum hielt Dieter Langewiesche kürzlich die "vorzügliche Studie" für die "beste Gesamtdarstellung zum Regierungssystem des Deutschen Reichs und seines Wandels". [1]
Sehen wir uns Textstruktur, Literaturverarbeitung, Argumentation und Interpretationen en détail an und fragen nach dem Neuigkeitswert. In drei Großkapiteln geht es um das weichenstellende Reichsgründungsjahrzehnt ab 1866 (27-277), die Entwicklung zur Reichsmonarchie und den Aufstieg des Reichstags (281-601) sowie um drei Einzelprobleme (605-802), die hier aus Platzgründen übergangen werden. Oliver Haardt identifiziert vier große Wandlungsprozesse: Die Zentralisierung föderaler Kompetenzen, die Monarchisierung des Kaiseramtes, die Nationalisierung des Bundesrates und die Parlamentarisierung der Reichsgewalt (20). Die Begriffe 'Monarchisierung' für die Kaiser-König Funktion und Nationalisierung eines Reichsorgans oder gar 'Monarchismus' als Gegenbegriff zum Parlamentarismus (403, 447) dürften kaum als denkbar beste Terminologie gelten. Literarische Abschnittstitel - 'Michels neue Kleider' (36), 'Gulliver, die Liliputaner und der Löwe' (61), 'Das germanische Rom' (108), 'Clio versus Minerva' (127) u. a. m. - erleichtern die zügige Orientierung nicht. Wissenschaft und Literatur sind doch zweierlei.
Im Reichsgründungsprozess verfolgte Bismarck das Ziel, Preußens Hegemonie und die monarchische Souveränität gegen Parlamentsmehrheiten zu schützen (93), und den Akt als Fürstenbund zu stilisieren, was den Anteil der Parlamente an der Verfassungsgebung unzulässig minimiert (103), auch wenn die Verfassungsberatung 1871 kurz war und nur wenige Änderungen gegenüber 1867 durchgesetzt wurden (171). Unnachgiebig verweigerte speziell Bismarck die jährliche Bewilligung des Militäretats und Diäten (235, 246 f.). Die Entstehungsgeschichte von Bundes- bzw. Reichsverfassung wird breit dargestellt. Hier wie generell bedingt Haardts Kombination von Erzählung und Analytik Längen und erhöhte Lesedauer. Zentrale Charakteristika finden Leser*innen verstreut: Austarierung von (legislativen) Bundes- und (monarchischen) Landeskompetenzen, jedoch Kompetenzkompetenz des Reichs als Einfallstor für Zuständigkeitserweiterung, undefinierte Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und Bundesrat als Souverän, aber volles Budgetrecht des Reichstags, insgesamt ein entwicklungsoffener Kompromiss (220 ff., 276 f.). Am Schluss hingegen hält Haardt den Liberalen opportunistischen Verrat ihrer Ideale vor (807, 811). In diesem Teil folgt er weitgehend den Konsens gewordenen älteren Forschungsarbeiten, etwa von Otto Becker und Heinrich Triepel für Kap. 2 bzw. Klaus Erich Pollmann für Kap. 3.
Im zweiten Großkapitel geht es zunächst um das Kaiseramt mit starken Kompetenzen in Außen- bzw. Personalpolitik. Dessen Machtkern lag im preußischen Königtum (301) und in Preußens Vetomöglichkeit mittels seiner Bundesratsstimmen, was auch dem Kanzler ein Regieren gegen Preußens versperrte (303f.). Wilhelm II. wurde öffentlich als Reichsmonarch perzipiert, nachdem allmählich eine Reichsbürokratie entstand, rund 100 Gesetze bis 1914 Kompetenzen auf das Reich verlagerten und dem Kaiser eine Verordnungsbefugnis nach Reichsgesetzen zuwuchs. Die Streitfrage, ob dieser ein persönliches Regiment im Sinne John Röhls ausübte, will Haardt nicht beantworten (298); wegen der genannten Strukturwandlungen habe Wilhelm jedoch "eine viel größere Machtbasis" besessen, als die eifrigsten Befürworter der These annähmen (329). An anderer Stelle bezeichnet Haardt Wilhelm II. als "ganz wesentliches Integrationshemmnis" und seine Zivil-, Militär- und Marinekabinette als eine Art "'höfische Nebenregierung'", die Minister stürzen konnte (503f.). Der Rückgang kaiserlicher Interventionen ab 1908 sei für den föderalen Entscheidungsprozess "das Entscheidende" gewesen, denn nun habe "eine gewisse Regelmäßigkeit" Platz gegriffen; Bülows Sturz 1909 bedeute einen "vom Parlament geführten Befreiungsschlag des föderalen Entscheidungssystems" (518). Hier wie auch in weiteren Abschnitten changiert die Bedeutung von 'föderal'; statt Bundesrat oder Ländern sind nun Reichstag oder Verfassungssystem gemeint. Begriffliches Oszillieren und spätere Relativierungen erschweren es, aus Haardts Band klare Befunde herauszulesen.
Im Kapitel zum Bundesrat leistet Haardt originäre Forschung, folgt freilich in seiner Argumentation weitgehend Manfred Rauh. [2] Der Bundesrat als "Garant der preußischen Hegemonie" (356) wurde durch die Reichsleitung ersetzt, indem man preußische Bundesratsbevollmächtigte durch Reichsbürokraten ersetzte, bis 1890 schon 63%, und viele Kleinstaaten sich aus dem Bundesrat zurückzogen (460, 372ff.). 16 Graphen belegen die Aussage. Dies habe zu einer Mediatisierung Preußens geführt (370), obschon die Loyalitätsfrage bei Bevollmächtigten mit Reichs- und preußischer Funktion sowie beim Kriegsministerium offenbleibe (362). Tatsächlich stammten rund 80% der reichischen Spitzenbeamten aus Preußen und trugen ihre preußische Prägung auf die Reichsebene. [3] Später (513) wird Preußen als "reaktionärer Bremsklotz" bezeichnet und irritierenderweise formuliert Haardt zudem, der Bundesrat gestaltete nicht, blockierte aber und blieb ein Bollwerk gegen den Reichstag (386). Dem kann der Rezensent nur zustimmen. Hier hätte Haardt ein Forschungsdesiderat ausfüllen können, nämlich welche der zahlreichen Reichstagsresolutionen der Bundesrat wann und wie oft blockierte, in der Diätenfrage ganze 15. Weitere Beispiele sind in den von Haardt nicht genutzten publizierten Quellen zu finden. Sie zeigen, dass in Machtkernfragen auch der von der Reichsleitung instruierte Bundesrat ein Prellbock für den Reichstag blieb.
Bedeutungsgewinn des Reichstags im späten Kaiserreich bestreitet heute niemand. Indes bildete der Reichstag keine Handlungseinheit, sondern war von vielfältigen politisch-sozialen Fronten durchzogen. Deren Grundlagen indes - etwa Parteien, Wahlkämpfe oder gesellschaftliche Milieus - kommen bei Haardt kaum vor. Zentrale Forschungserträge bleiben nonchalant ausgeblendet. [4] Haardt verortet die Lage 1909 bis 1914 "zwischen Stabilität und Krise" (519) bzw. mit Thomas Nipperdey als "stabile Krise" (540). Im Kern seien "die Strukturen der preußischen Hegemonie nach wie vor intakt" gewesen (522f.) und der Bundesrat marginalisiert, freilich weiterhin im Ernstfall ein Schutzwall für die Reichsleitung (532f.). Gesetzgebungsverfahren verliefen ihm zufolge meist "geradezu harmonisch", etwa die Reichsversicherungsordnung, aber zugleich "gelang es nicht, die politischen Gegensätze zu entschärfen" (537f.). Speziell die Sozialdemokratie blieb Außenseiter. Das 1912 bloß in die Geschäftsordnung des Reichstags eingefügte Mißtrauensvotum markiere einen "großen Schritt in Richtung Parlamentarisierung" (533). Schon E. R. Huber verwandte treffender den Begriff Mißbilligungsvotum gegen einzelne Exekutivmaßnahmen, denn Kanzlersturz war rechtlich ausgeschlossen. Das 1913 zweimal gebrauchte Instrument führte weder nach Zabern zur Reform der Militärverfassung noch verhinderte es Enteignungen polnischen Grundbesitzes. Beide parlamentarische Voten erschütterten Kanzler Bethmann Hollwegs Position nicht, sondern stärkten sie, zumal bei Wilhelm II., so Haardt andernorts (772) selbst.
Manfred Rauhs Kondensat einer Denkschrift des Innenstaatssekretärs Clemens Delbrück von 1914 interpretiert Haardt als manifesten Schritt zur Parlamentarisierung und Ansatz zur Bildung eines Reichskabinetts (543-545). Delbrücks im Bundesarchiv nachlesbares Schriftstück fordert jedoch nur einen Einsendeschluss für Gesetzentwürfe und zügigere Ressortabstimmung durch mündliche Beratungen. Er beklagte, dass "nach jahrelangen Verhandlungen zwischen der Reichsleitung und Preußen" häufig "kaum Zeit für die Bundesratsbevollmächtigten bleibt, ihre Instruktionen einzuholen." Die Verhandlungen zwischen Reichs- und preußischen Ressorts seien abzukürzen, denn sie gingen "auf Kosten der dritten und nicht unwichtigsten Etappe", den Beratungen im Bundesrate. Dessen Ausschaltung erstrebte Delbrück also nicht. Zwecks "Einschränkung der Etatsverhandlungen" solle der seit Bismarck befolgte "Grundsatz der Nichtbeteiligung an der Erörterung von Initiativanträgen" des Reichstags aufgeweicht werden. Darauf ging Bethmann Hollwegs Reaktion gar nicht ein, sondern forderte die Reichsämter bloß zur zeitigen Mitteilung ihrer Vorlagen und mündlichen Beratung dazu auf. Insgesamt: Mehr Geschäftsgangstraffung statt begriffsgemäßer Parlamentarisierung. Deren Umfang bis 1914/17 klar zu beurteilen, scheut Haardt sich. Er stellt Fragen zur Definition des Begriffs, konstatiert eine Teilparlamentarisierung von Anfang an - sprich: das Wesen des konstitutionellen Systems -, und schließt mit dem kryptischen Satz, "dass sich die Parlamentarisierung ob des Paradoxons des deutschen Konstitutionalismus allen Definitionsversuchen entzieht" (600f.). Für den Rezensenten bleibt dies unbefriedigend nach 200 Seiten Text.
Die Parlamentarisierung sieht Haardt als "Teil der allumfassenden Entwicklung des Bundesstaates" (599) und er versucht bis zum Schluss (803-857), den Föderalismus als Hintergrund und Kernpunkt der kaiserzeitlichen Verfassungsentwicklung herauszustellen. Aber wie vereinbaren Leser*innen dies mit Haardts Feststellung, "das monarchische Wesen" des Bundesstaats sei "einer der Hauptgründe für dessen erratische Entwicklung" gewesen; der stetige Konflikt habe im "Ringen zwischen monarchischen und parlamentarischen Kräften" (823) bestanden? Die föderalen Strukturen hätten lediglich als "Kampfmittel in der Auseinandersetzung um die Regierungsgewalt" (805) gedient. Die Volte erstaunt, denn Föderalismus wäre damit primär Funktion eines bekannten politischen Antagonismus', die Dominanz der Reichsleitung im Bundesrat war offenbar verfassungspolitisch wirkungslos und Haardts Erklärungsanspruch deutlich dezimiert. Die Argumentation bleibt uneindeutig. Auf Twitter hingegen teilt Haardt neuerdings Hedwig Richters Sichtweisen etwa contra Andreas Wirsching.
Schließlich irritiert eine Aussage Haardts zur Folgewirkung. Der im Kaiserreich - anders als in den vergleichsweise herangezogenen USA und der Schweiz - gewachsene Mangel an Respekt vor dem Föderalismus habe die Weimarer Republik anfällig für die ökonomischen und politischen Krisen um 1930 gemacht; Antipathie gegen den Föderalismus habe den Preußenschlag 1932 wie die "Gleichschaltung" aller Länder 1933/34 sehr erleichtert (832-835). Ging es 1932/33 nicht um Abschaffung der Demokratie und Schleifung der SPD-Machtbasis Preußen, generell von Parteien und gewählten Repräsentativkörperschaften durch die antiparlamentarische, antiwestliche, antisemitische, großmachtfixierte Rechte? War die Zertrümmerung der Länder nicht Teil der NS-Gewaltpolitik, keineswegs Politikziel des Zentrums, der Sozialdemokraten, der Regionalisten, fast aller Demokraten? Richtig bleibt ein anderer Satz Haardts: "Föderalismus ohne Demokratie" funktioniert nicht (853).
Haardts ambitionierter Band enthält richtige Einsichten, aber auch manche Widersprüche und wenig plausible Interpretationen. Wiewohl er eingangs einräumt, dass seine Darstellung angesichts vieler grundlegender Arbeiten "auf den Schultern von Riesen" (15) aufbaue, kollidieren damit vollmundige Formulierungen von Klappentext und Verlagswerbung. Leser*innen könnten die dortige Aussage, das Kaiserreich sei kein "festgefügtes Machtgebilde", sondern ein flexibler Rahmen gewesen, und "'die nervöse Großmacht' erkläre sich "durch die ihr konstitutiv mitgegebene innere Instabilität", die "ganz neue Analysen für die Innenpolitik wie die Außenpolitik liefern" könne, dahin (miss)verstehen, dass die wilhelminische Innen- und Außenpolitik schicksalhafte Folge von Instabilität ganz ohne Agency gewesen sei. Zumal Außenpolitik blieb jedoch Arcanum in Berlin; es gab keine Zwangsläufigkeit der unheilvollen Entwicklung. Eigentlich eine Erkenntnis, die Haardt selbst mehrfach formuliert.
Anmerkungen:
[1] Dieter Langewiesche: Der ruhelose Staat, in: Süddeutsche Zeitung, 16.6.2021
[2] Manfred Rauh: Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1973 und Ders.: Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977; zum Bundesrat intern vgl. Oliver F. R. Haardt: Innenansichten des Bundesrates im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, in: Historische Zeitschrift 310 (2020), 333-386.
[3] Rudolf Morsey: Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867-1890, Münster 1957, 251ff. 80% Preußen in den Reichsspitzen sind auch nach 1890 anzunehmen.
[4] Im Buch fehlen die Argumentationen von Christoph Schönberger und Thomas Kühne, die Haardt, Innenansichten, 335, nur unkommentiert als "Gegenpositionen" zu Rauh anmerkt. Unberücksichtigt bleiben ferner die parteigeschichtlichen Arbeiten Gerhard A. Ritters oder Karl Rohes Wählerbewegungs-Analysen, die finanzpolitischen Standardwerke von Peter-Christian Witt und Rudolf Kroboth, Josef Ankers Buch zur föderal umstrittenen Militärstrafprozeßordnung sowie James Retallacks perspektivenreiches Werk Red Saxony.
Hartwin Spenkuch