Birgit Aschmann / Monika Wienfort (Hgg.): Zwischen Licht und Schatten. Das Kaiserreich (1871-1914) und seine neuen Kontroversen, Frankfurt/M.: Campus 2022, 399 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51508-3, EUR 32,00
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Das Deutsche Kaiserreich ist vor dem Hintergrund des 150. Jahrestags der Reichsgründung in der Historikerzunft wieder ein Thema. Man konnte und kann den Eindruck gewinnen, dass es bei den in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, aber auch publizistisch ausgetragenen Kontroversen, weniger um genuine Forschungsfragen geht, sondern in erster Linie um Geschichtsbilder und Empfindlichkeiten in gesellschaftlichen und wissenschaftspolitischen Debatten sowie vor allem um die Frage, was der kleindeutsch-preußische monarchische Nationalstaat eigentlich noch mit dem heutigen Deutschland zu tun hat.
Der vorzustellende Sammelband trägt die Ergebnisse einer Ringvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität im Sommersemester 2021 zusammen. Die Herausgeberinnen Birgit Aschmann und Monika Wienfort verfolgen mit der Veröffentlichung das Ziel, "auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes Wissenslücken zu schließen", wobei sie zugespitzt, aber im Kern zutreffend, darauf hinweisen, dass "die Bereitschaft zum Streit nicht immer mit der Höhe des Kenntnisstandes korreliert" (beide Zitate 16). Vermittelt werden sollen Vielfältigkeit und Komplexität des Kaiserreichs, wobei ein Anspruch auf Vollständigkeit nicht erhoben wird. Dass dieses Bekenntnis zur agonalen Abrüstung keineswegs nur ein Lippenbekenntnis ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass mit Hedwig Richter und Christina Morina zwei Historikerinnen an dem Sammelband beteiligt sind, die im April 2021 öffentlichkeitswirksam via "Die Zeit" und "Süddeutsche Zeitung" die Klinge kreuzten. Auch ansonsten folgt die Zusammensetzung des Beiträgerkreises nicht den sonst so häufig zu beobachtenden wissenschaftspolitischen Lagerbildungen; die Herausgeberinnen ließen den Autorinnen und Autoren offenbar auch freie Hand, ob bzw. wie sie ihre Themen konkret geschichtspolitisch kontextualisieren wollten.
Frank Becker (Duisburg-Essen) und Heinz-Gerhard Haupt (Bielefeld) beschäftigen sich in ihren Beiträgen ausführlich mit der Frage, ob bzw. inwieweit die kriegerische Entstehung des Reichs dessen Politik und innere Verfasstheit determinierte, sowie mit dem Zusammenhang von Staatsbildung und Gewalt. Becker verweist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Krieg und Militarismus als hochgradig polyvalente Phänomene in unterschiedlichster Weise politisch und gesellschaftlich anschlussfähig gewesen seien, es insofern nicht möglich sei, diese eindeutig auf einer Licht- oder Schattenseite zu verorten. Haupt verneint auf der Basis von Vergleichen mit Frankreich und Italien eine besondere Disposition des Kaiserreichs zur Gewalt im Innern. Anders verhielt sich dies, wie Ulrike Lindner (Köln) zeigt, in den deutschen Kolonien, wobei auch sie im Vergleich mit den Gewaltpraktiken anderer Kolonialmächte einen deutschen Sonderweg verneint, sondern von graduellen Unterschieden spricht (121). Ein sehr differenziertes Bild Otto von Bismarcks "als Mann und Mythos" zeichnet Robert Gerwarth (Dublin), der dafür plädiert, "die Widersprüche auszuhalten, von denen der Reichsgründer und sein Werk geprägt waren, und sich der Komplexitätsreduktion zu verweigern, von der die derzeitige öffentliche Diskussion [...] bisweilen gekennzeichnet ist." (74). Christoph Nonn behandelt den Antisemitismus unter dem Schlagwort "der Fluch der Retrospektive" und betont hierbei v.a., dass Kontinuitäten zwischen dem Kaiserreich und dem "Dritten Reich" zwar vorhanden, diese aber nicht linear seien. Hedwig Richter (München) bekräftigt in ihrem Beitrag ihre Thesen zur "Demokratisierung in der internationalen Reformära", wobei sie unter dem Schlagwort "große Exklusion" auch den Kolonialismus behandelt. Monika Wienfort (Potsdam) untersucht "Geschlechterfragen und Partizipationsdebatten" und arbeitet u.a. heraus, dass im Kaiserreich entscheidende Schritte zur politischen Gleichstellung der Frauen unternommen wurden, auch die Entstehung einer sozialen Bewegung zur Entkriminalisierung der Homosexualität falle in diese Zeit. Sandrine Kott (Genf) und Wilfried Rudloff (Marburg) behandeln in ihrem Beitrag die Entstehung sozialstaatlicher Strukturen im Kaiserreich und arbeiten hierbei besonders die Ambivalenz dieser Entwicklung im Spannungsfeld von konkreten politischen Konflikten und mittel- bzw. langfristigen Integrationsprozessen heraus. Werner Plumpe (Frankfurt/Main) beleuchtet die Erfolgsgeschichte des Aufstiegs des Kaiserreichs zur wirtschaftlichen Vormacht in Europa und spricht in diesem Zusammenhang von einem "wilhelminischen Wirtschaftswunder" (231). Thomas Mergel (Berlin) untersucht das komplexe Feld der Urbanisierung und macht deutlich, dass sich auch hier das Bild nicht in ein schlichtes Schwarz-Weiß-Schema fügt, sondern Gegensätzlichkeiten sowohl in den Städten als auch zwischen der Reichsebene und den Städten kennzeichnend sind. Ähnliches gilt für den Umgang mit der Natur, die Birgit Aschmann (Berlin) von "Inkohärenzen in der Hochmoderne" gekennzeichnet sieht. Fortschrittlichen Tendenzen etwa im Bereich der Seuchenbekämpfung und der "Zähmung" der Natur, die für sich genommen natürlich auch ambivalente Phänomene waren, stehen Tendenzen der Lebensreformbewegung gegenüber, deren weitere Entwicklung im "kurzen 20. Jahrhundert" ebenfalls einen zwiespältigen Charakter hatte. Frank Lorenz Müller (St. Andrews) beschäftigt sich mit der Geschichtspolitik im Kaiserreich und arbeitet hierbei vor allem die, trotz alternativer Sinnstiftungsangebote etwa des politischen Katholizismus, der Arbeiterbewegung oder im Königreich Bayern, insgesamt doch integrativen Aspekte der Hohenzollernlegende heraus. Wilfried Nippel (Berlin) vertieft diese Thematik noch, indem er Wissenschaft und Deutungsmacht von Berliner Historikern im Kaiserreich untersucht und hierbei deutlich macht, dass das Politisieren von Historikern vor dem Hintergrund tagespolitischer Konflikte keineswegs erst eine Erscheinung unserer Tage ist. Ein sehr interessantes Feld beackert abschließend Christina Morina (Bielefeld), die differenziert auszuloten versucht, inwieweit das Kaiserreich für das heutige Deutschland ein Erinnerungsort ist. Sie macht hierbei sehr deutlich, dass solche Debatten immer Ausfluss gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse betreffend die Grundlagen eines politischen Systems bzw. einer Gesellschaft sind. Sie warnt unter Verweis auf Jörn Rüsen gleichzeitig vor einem Übermaß an Gesinnungstüchtigkeit bei solchen Auseinandersetzungen.
Die Herausgeberinnen weisen vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Bandes zu Recht darauf hin, dass man das Deutsche Kaiserreich nicht einfach als "helle" oder "dunkle" Epoche der deutschen Geschichte verstehen könne (23). Nachdenkenswert ist der Hinweis, es bleibe abzuwarten, ob der Beginn des Ukraine-Kriegs am 24. Februar 2022 Auswirkungen auf das künftige Bild des Kaiserreichs haben werde, etwa mit Blick auf die Interpretation von dessen Militärgeschichte oder Außenpolitik. Angesichts der Tatsache, dass Apologeten der gegenwärtigen russischen Politik gerne ein glorifiziertes Bild "deutsch-russischer Freundschaft" in den ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs beschwören, ist zu erwarten, dass hier auf die Geschichtswissenschaft noch einiges zukommt. Die Debatte dürfte also spannend bleiben.
Etwas verwundert stellt der Rezensent fest, dass in einem Buch, das sich ansonsten weitgehend des Genderns enthält, im Vorwort durchgängig von "Kolleg:innen" etc. die Rede ist. Dennoch: Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Sammelband kenntnisreich und ausgewogen und deshalb gut geeignet ist, sich ein differenziertes Bild von den Forschungsdebatten der letzten Jahre zum Kaiserreich zu machen. Der Obertitel "Zwischen Licht und Schatten" ist insofern gut gewählt.
Matthias Stickler